Handelt es sich bei der aramäischen Sprache um die Landessprache der Armenier, welche um 1900 in der Türkei vertrieben wurden (Völkermord)?
Severine Bieri, CH-5000 Aarau
Antwort: Das Aramäisch gehört zur Familie der semitischen Sprachen, deren bekannteste Charakteristiken die Rachen- und Kehllaute sind. Das Aramäisch ist bereits wieder ein umfangreicher und mannigfaltig gegliederter Zweig, zu dem u.a. das Reichsaramäisch (in einigen Texten des Alten Testaments zu finden), das Nabatäische, Palmyrenische, Jüdisch-Palästinensische, Samaritanische bis zum Mandäischen und Obersyrischen gehören. Laut "Meyers Grossem Taschenlexikon" stammt diese Sprache wahrscheinlich aus Syrien, von wo aus sie sich über den ganzen Vorderen Orient und weiter nach Osten ausbreitete. Bereits in der assyrischen Zeit hatte das Aramäisch den Rang einer internationalen Sprache.
Mit der Landessprache der Armenier aber hat das Aramäisch nichts zu tun; das Wort klingt nur ähnlich. Die armenische Sprache ihrerseits ist ein selbstständiger Zweig der indogermanischen Sprachfamilie, der mit Lehnwörtern aus dem Iran und aus benachbarten nichtindogermanischen Sprachen durchsetzt ist. Die Armenier haben eine aus dem Griechischen entwickelte eigene Schrift. Sie gehören in der Regel einer christlichen Nationalkirche mit einer monophysitischen Lehre[1] an, die heute als Armenisch-apostolische Kirche bezeichnet wird. Die Armenier sind ein indogermanisches Volk, das ursprünglich in Armenien lebte, nach den türkischen Verfolgungen zum grössten Teil zum Auswandern (vor allem nach Transkaukasien) gezwungen war; es ist tatsächlich angezeigt, in diesem Zusammenhang von einem "Völkermord"[2] zu sprechen.
Armenien hatte sich 1918 zur unabhängigen Republik Armenien proklamiert, der schon 2 Jahre später sowjetische und türkische Truppen ein Ende bereiteten. 1923 wurde die türkische Annexion von Kars und Ardahan international anerkannt, ebenso die Einverleibung des übrigen Armenien in die Sowjetunion (1922) als autonome Republik.
Das historische Reich Armenien befand sich grösstenteils auf dem Gebiet der heutigen Türkei (Ost-Anatolien), sodann in der ehemaligen Sowjetunion (südlich des Kleinen Kaukasus und der damaligen Grusinischen SSR) und in Nordwest-Iran. Im Tal des Aras, der eine Grenze gegen die Türkei und den Iran (Persien) bildet, wird Baumwolle angebaut sowie Obst- und Weinbau betrieben; die vulkanischen Tuffe bildeten die Grundlage für einen sehr fruchtbaren Boden. Das ausgesprochen gebirgige Hochland ist trocken und im Winter sehr kalt; hier ist die Viehwirtschaft der Haupterwerb; es werden Käse, Wolle, Fleisch und Häute ausgeführt.
Armenien, ein kleines, in 11 Regionen aufgeteiltes Land mit 29'800 Quadratkilometer Fläche und rund 3,8 Mio. Einwohnern, wovon 93% Armeniern, ist seit 1991 eine Präsidialrepublik; Staatsoberhaupt ist zurzeit Robert Kotscharjan (Stand: 2002). Die Hauptstadt ist Jerevan (Eriwan). Dort soll es eine weltberühmte Radiostation geben... Radio Eriwan, die durch ausserordentlich gescheite Antworten auf Fragen aufgefallen ist. Zum Beispiel: "Warum beantwortet Radio Eriwan eine Frage häufig mit einer Gegenfrage?" - Antwort: "Warum nicht?"
Bei uns aber geht es um Antworten, nicht um Gegenfragen oder? Deshalb muss zwingend noch die Frage geklärt werden, wo denn das Aramäisch heute gesprochen wird. Antwort: In Syrien und in der Türkei. In Syrien ist Aramäisch eine von 8 (neben Arabisch, Armenisch, Assyrisch, Französisch, Kurdisch, Syrisch und Tscherkessisch) und in der Türkei eine von 11 gesprochenen Sprachen (neben Arabisch, Armenisch, Dimli, Georgisch, Neu-Griechisch, Kurdisch, Ladino, Syrisch, Tscherkessisch und Türkisch).
Eine vorzügliche Übersicht über die auf dieser Erde noch gesprochenen Sprachen findet sich unter http://www.worldlanguage.com/German/Countries.
Sprachen sind ein hohes Kulturgut, ein Aspekt der kulturellen Vielfalt eine Einheitssprache wäre ein Greuel, eine Verarmung. Doch im Rahmen der uniformierenden Globalisierung findet auch ein Sprachensterben statt. Das Aramäisch oder das Armenisch werden es wohl nicht sein, die zur Welteinheitssprache für die Massengesellschaft im "globalen Dorf" werden könnten...
H.
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[1] Der Monophysitismus ist eine theologische Position innerhalb der häufigen christologischen Streitereien, die im 5. Jahrhundert ausgetragen wurden. Sie vertritt die Auffassung, dass es in der Person Jesu Christi nur eine Natur gibt; nach dieser Vorstellung wurde bei der Vereinigung des göttlichen Logos mit dem Menschen Jesus die menschliche Natur von der göttlichen absorbiert.
[2] Von einem Völkermord spricht man nach heutigem Sprachgebrauch, wenn eine Täterschaft beabsichtigt, eine Gruppe von Menschen ganz oder teilweise zu zerstören, die von nationalen, rassischen, religiösen oder ethnischer Eigenarten näher bestimmt ist.
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