Wo liegt bloss dieses Biberstein?
P.H., CH-2542 Pieterlen
Antwort: Dieses Biberstein liegt irgendwo in der Schweiz. Aber es ist, zugegeben, etwas abgelegen, unscheinbar. Zwischen 1319 und 1535 wurde das kleine Dörfchen am Jurasüdfuss unter dem Homberg und der Gisliflue zwar als Stadt bezeichnet. Das war ziemlich übertrieben.
Hier kennt man keine Eisenbahn und keinen Bahnhof, weil das abschüssige Gelände solches nicht zulässt, wohl aber eine Hintere Bahnhofstrasse. Es handelt sich um die steil aufwärts zur Eichgasse führende, enge hintere Dorfstrasse, die zwar nicht im Strassenverzeichnis figuriert und nicht so angeschrieben ist. Aber die älteren Bibersteinen sagen ihr so, und das gilt. Im Dorf selber gibt es nicht einmal eine Kirche. Aber dafür haben wir hier eine "Heidechile" (Heidenkirche). Das ist kein Bauwerk, sondern eine Flurbezeichnung für eine Stelle oberhalb des Hohlenkellers neben dem Gislifluhweg, wo jeweils das 1.-August-Feuer abgebrannt wird. Dort wurden ums Jahr 600 alemannische Gräber eingerichtet, die allerdings zugeschüttet und damit für die Nachwelt konserviert sind. Dorthin spaziert man wegen der schönen Aussicht ins Mittelland nicht etwa, um der Alemannen zu gedenken. Kontakt zu lebendigen Alemannen kann man leicht herstellen. Man überquert einfach den Jura nordwärts, kommt bald an den Rhein und ist sogleich in Deutschland, mit dem Auto in etwa 20 Minuten.
Und zur Kirche geht, wer es nicht lassen kann, auf den Kirchberg zwischen Biberstein und Küttigen. Dort oben, im Pfarrhaus neben dem alten Friedhof, verfertigte der Schriftsteller Hermann Burger ("Der Autor auf der Stör"; "Die Künstliche Mutter") allmählich seine Ideen beim Schreiben.
Aber da schweife ich ab, bevor wir die Gemeinde Biberstein überhaupt gefunden haben. Wissen Sie, wo Aarau ist? Im Aargau. Es ist die Hauptstadt des flussreichen, aber nicht ausgesprochen einflussreichen Kantons zwischen Zürich und Bern. Ein Durchfahrtskanton. Politisch der Durchschnittskanton. So wie der Aargau bei Volksabstimmungen stimmt, stimmt die Schweiz. Diese pauschale Feststellung stimmt häufig, nicht immer. Und meistens sind die Aargauer Entscheide richtig. Man sollte die Urteilsfähigkeit der Aargauer nicht unterschätzen: sie haben im Frühjahr 2002 sogar den Beitritt zur Uno abgelehnt; eine unerklärliche Panne verhinderte, dass diesem weisen Entscheid nicht auch auf eidgenössischer Ebene gefolgt wurde. Es ging um eine Haaresbreite.
Nur ausgesprochene Kenner halten im Aargau an. Das Unterbrechen der Durchfahrt und Aussteigen ist gefährlich. Man bleibt hier gern hängen. Denn das ist einer der schönsten und praktischsten Kantone, bestehend aus lauter hübschen Städtchen, Dörfern, welche die Architektur-Moderne zwar nicht unbeschadet überstanden und manchmal ein etwas unsensibles Verhältnis zu historischen Bauwerken entwickelt haben, aber im Kern immer noch sehenswert sind. Und von hier aus ist man sofort in grösseren Städten: in Zürich, Bern, Luzern, falls ein Ausrutscher dorthin überhaupt nötig ist.
Wenn man Aarau einmal gefunden hat, muss man nur noch über die Kettenbrücke (die Ketten sind nicht mehr) und nördlich der Aare dann nach rechts (Osten), oder, die Aarauer Bahnhofstrasse ostwärts verlängernd, über den Kreuzplatz und aaretalabwärts nach Rohr und dort nach links (nordwärts), um Biberstein zu finden. Ihr Autopilot weiss schon, wo das ist. Von Rohr her führt die schmale, gewundene Strasse über eine im 2. Weltkrieg von Soldaten erstellte Aarebrücke, welche die ehemalige Fähre ersetzt hat. Eine "Aarfähre" mit hochseetauglichen Rettungsbooten an der Fassade und Plastikpiraten neben Plastiksauriern im Garten gibt es nur noch als Gaststätte. Die Fährleute, Flösser, Schiffer und Fischer von einst braucht es nicht mehr.
Wie ich nach einer langen Irrfahrt in den Aargau gekommen bin und 1971 endlich Biberstein gefunden habe, weiss ich nicht mehr so genau. Es bot sich irgendwie durch seine In-sich-Gekehrtheit an. Diese Lage: Blick auf die leider kanalisierte Aare, die demnächst wieder mehr Auslauf erhalten soll, auf einige Mittellanddörfer (Rohr, Buchs, Suhr) und bis ins Alpengebiet, wenns föhnig ist. Sonst sonnt man sich am Anblick des Schlosses Biberstein, des aus dem 13. Jahrhundert stammenden markantesten und bekanntesten Gebäudes im Dorf. In dieser Burg regierten zwischen 1537 und 1798 insgesamt 51 Landvögte, obschon man nicht weiss, was es denn bei diesen friedfertigen Menschen überhaupt zu regieren gab. Heute beherbergt das traditionsreiche Gebäude ein Heim, eine Wohn- und Arbeitsstätte für behinderte, nette, arbeitswillige freundliche junge Menschen, die das Dorf beleben bereichern. Ein junger Mann namens Wehrli aus dem Schloss hatte einmal die Sitzbank im Dorfzentrum demontiert. Sie wurde vermisst, galt als gestohlen. Doch der "Dieb" hatte sie nur mitgenommen, um sie in der Schloss-Werkstatt aufzufrischen. Plötzlich stand sie in neuem Glanz wieder an ihrem Platz: Das ist unsere Erfahrung mit "Kriminalität". So lebt es sich gut, idyllisch.
Der Dorfkern ist intakt geblieben. Platzängste kennt man hier nicht, wie der leere Platz im oberen Dorfteil belegt. Auf hochbeetartig, hinter Mauern angelegten Gärten gärtnern tüchtige Bibersteinerinnen mit Sinn für Farben, Blumenschmuck und gesundes Gemüse. Polsterpflanzen hängen über die Mauern und setzen Farbtupfer. Die Ortsverbindungsstrasse ist im Dorfkern wunderbar eng. Hier bremst alles ab, zwangsläufig: Der Bibersteiner Beitrag zur Verkehrssicherheit, zur Entschleunigung.
Und sonnig ist es hier! Reben gediehen schon immer prächtig, sonst würde der Weg, an dem wir wohnen, nicht Rebweg heissen. Wir haben pflichtschuldig einige wilde Reben und einige Tafeltrauben gepflanzt, die meistens von Wespen und Bienen, die es auch noch gibt, mit Wollust verzehrt werden. Am Jurahang findet sich noch Natur: Magerwiesen, Hecken, Wälder, Waldlichtungen. In unserem Wohnbereich gibt es fast so viele zutrauliche Füchse wie Hunde.
Auf der anderen Flussuferseite soll ein grosses Feuchtgebiet entstehen, eine Aue ("Auenschutzpark"). Die Aare soll aus dem Kanal befreit werden und Natur schaffen dürfen. In den politischen Rang erhobene Befürchtungen aus der ferneren Nachbarschaft, die Malaria könnte hier Fuss fassen, sind bereits zerstreut... Vielleicht hört man dann wieder Frösche quaken, wie früher, bevor die Aare im Zusammenhang mit dem Flusskraftwerkbau Rupperswil-Auenstein kanalisiert wurde. Bereits machen sich Naturfreunde Gedanken darüber, wie das neue Naturreservat nach den edelsten Prinzipien des ökologischen Managements betrieben werden könnte, dort, ganz in der Nähe des Ökokorridors Rupperswilerwald mit dem internationalen Wildwechsel. Das Wild verhält sich im Prinzip wie die Durchfahrenden, aber im Unterschied zu diesen bewegt es sich intelligenterweise zu Fuss. Und Fussgänger überfahren niemand.
Der Biber mochte das nicht erwarten und ist bereits wieder eingetroffen. Er unternimmt manchmal, wie andere Bibersteiner auch, eine Wanderung zum Wohnquartier Telli in Aarau, zur Suhremündung, zum unteren Teil des Sengelbaches und zum Frey-Kanal. Die Aarauer meinen dann, er sei einer von ihnen. Doch er ist das Bibersteiner Wappentier, darf an einem Holzstück nagen, im Wappen ebenso wie drunten an der Aare. Spuren deuten jedenfalls darauf hin.
Die geplante Wiederherstellung der Auenlandschaft auf Rohrer Boden würde die berühmte Bibersteiner Biobadi wuchtig ergänzen. Die bisherige Schwimmbad-Betonwanne mit dem chlorstinkenden Wasser wurde aufgebrochen und in einen modifizierten Naturteich umgewandelt, in dem Wasserpflanzen den grössten Teil der Wasserreinigung kostenlos besorgen. Man badet jetzt nicht mehr wie andernorts in einer giftgasgeschwängerten Atmosphäre (Chlor wurde im 1. Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt).
Wir Bibersteiner haben frisches, gesundes, nitratarmes und dafür jurakalkhaltiges Quellwasser, das vom extensiv landwirtschaftlich bewirtschafteten Jura zu uns fliesst, beste Qualität, das jedes Flaschenwasser in den Schatten stellt. Eine Gemeinde mit eigenem, bestem Quellwasser! Bald eine Sensation. Früher reisten Aarauer mit leeren Flaschen auf Geheiss von Ärzten zum Dorfbrunnen in Biberstein, um von diesem Gesundheitselixier zu trinken und so viel wie möglich mitzunehmen.
Aber ich will beileibe nicht etwa Werbung für diese industriefreie Gemeinde nur Kleingewerbe passt hierhin mit ihren hohen Wohnqualitäten betreiben, zumal die Baukrane ohnehin gerade üppig spriessen und die ungezähmte Bauwut manchmal sogar über die Grenzabstände hinaus fressen soll. So hört und liest man es jedenfalls. Ein klares Ordnungsmuster ist nicht auszumachen.
Biberstein ist etwas für Kenner und für Geniesser des Besonderen. Der Busbetrieb Aarau kann es sich leisten, für die Fahrt hierher immer die ältesten Fahrzeuge einzusetzen, kurz bevor sie nach Osteuropa verschachert werden. Die Fahrt nach Biberstein auf der engen und hoffentlich schmal bleibenden Strasse ist dennoch eine angenehme Reise in eine beinahe heil gebliebene Welt. Hier bejubeln Vögel den neuen Tag, und Füchse und Biber sagen einander gute Nacht.
Walter Hess
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