Sünder leben gesünder
Was hat man nicht schon alles unternommen, um uns das Sündigen auszutreiben! Fragt sich nur, was denn eigentlich eine Sünde sei.
Eine Sünde im religiösen Sinn ist die Übertretung eines "göttlichen" Gebotes. Auch im zivilen Bereich gibt es klar definierte Grenzen, die nicht übertreten werden dürfen: etwa das Fahren über eine bestimmte Geschwindigkeitslimite und Parkieren über eine vorgegebene zeitliche Limite hinaus. Die Liste kann beliebig verlängert werden: Diebstähle, Sachbeschädigungen, Nichtbezahlen der Steuern und anderer Rechnungen. Und wenn man das Aufgebot zum Einrücken ins Militär erhält, hat man anzutreten, ansonsten man eingesperrt wird - eine irdische Form der Verdammnis. Und so weiter.
Es gibt Normen, die klar und eindeutig sein müssen, damit das gesellschaftliche Zusammenleben reibungslos funktioniert und eine gewisse Pflichten- und Rechtsgleichheit garantiert sind. Wir sind darauf dressiert worden, und daran ist nichts auszusetzen. Im Militär heisst es schlicht und einfach: "Befehl ist Befehl." Schon in jungen Jahren haben wir am eigenen Leib erfahren, dass am besten fährt und am leichtesten durch diese Welt kommt, wer sich an die Reglemente und anderen gesellschaftsüblichen Vorschriften hält. Wer in Sachen Belohnungs- und Strafkultur zu wenig Gespür entwickelte, dem hat man schon gezeigt, wo der Bartli den Most holt, wie man in bäuerlichen Gebieten der Schweiz früher sagte. Erziehung ist alles. Am Schluss klappt alles wunderbar; die Gesellschaft funktioniert harmonisch - abgesehen von einigen Ausrutschern, für deren Ahndung ebenfalls gesorgt ist.
Festgeschriebene Verhaltensnormen ohne jeden Spielraum, die zwingend eingehalten werden müssen, lassen aber kein Training der eigenen Entscheidungsfindung zu. Das wirkt sich im Alltag oft verheerend aus. Die Hilflosen greifen in ihrer Not verzweifelt zu klaren Direktiven, woher auch immer sie stammen mögen, um das selbstständige Entscheiden umgehen zu können. Oder sie halten sich an allgemein verbreitete Grundsätze, die sich aufgrund offensichtlicher Missstände oder Gefahren ergeben haben, ohne sie zu hinterfragen. Dieses Verhalten strandet dann etwa bei den folgenden Dogmen:
Die Liste könnte fortgesetzt werden, bis zum sexuellen Verhalten, das besonders früher mit dem Sündegedanken schwer beladen war; da wurden natürliche Bedürfnisse besonders intensiv unterdrückt, bis die Neurosen blühten.
Eine solche Schwarzweissmalerei und Polarisierung verhindert das Erlernen eines vernünftigen und zurückhaltenden Umgangs mit Erscheinungen und Trieben, die im Zaume gehalten werden müssen, sowie mit problembeladenen Stoffen, die aber bei sinnvoller Nutzung durchaus ihr Gutes haben. Extreme sind immer verhängnisvoll, wie selbst an der Erfindung des Gegensatzes von "Himmel" und "Hölle" zu erkennen ist: Die Vorstellung von Hölle und Teufel - das "Böse" hat eine tier- bzw. menschenähnliche Gestalt angenommen - ist die teuflischste Vorstellung überhaupt und von unermesslichen nachteiligen Auswirkungen auf die Psyche.
Bei wiederum anderen Personen kann das Verbotene gerade deshalb, weil es verboten ist, einen unwahrscheinlichen Reiz entfalten, der eines Tages Oberhand über alle Beherrschung gewinnt, und dann ist der Weg zur Sucht geebnet. Süchte, denen man hilflos ausgeliefert ist, sind eine der schlimmsten Arten von Unfreiheit. Solche von Willenlosigkeit geprägten Verhaltensweisen sind immer die Folge von fehlenden Kenntnissen im Umgang mit Gefahrenpotenzialen; wo hätte man die entsprechenden Übungsgelegenheiten auch hernehmen sollen?
Zweifelsfrei haben viele verpönte Produkte, ob sie aus der Natur oder aus der industriellen Produktion stammen, hier und dort durchaus ihre Legitimation, wenn wir es verstehen, sie zweckmässig und gegebenenfalls mit der gebotenen Zurückhaltung einzusetzen:
Eine Tasse Kaffee oder Schwarztee kann am Morgen oder tagsüber durchaus angenehm erfrischend sein. Man muss deshalb noch lange nicht ununterbrochen Kaffee oder Tee schlürfen. Etwas Zucker, sparsam als Gewürz eingesetzt, ist immer noch sinnvoller als die Anwendung von synthetisierten Süssstoffen.
Ein Glas Wein als Begleitung zum Essen kann den Genuss erhöhen und vollenden, und die Verdauung (vor allem im Alter, wenn die Magensäure-Produktion nachlässt) verbessern. Man braucht deshalb noch lange nicht den ganzen Tag über Wein zu trinken und ununterbrochen betrunken herumzutorkeln.
Zur Entspannung einmal eine Zigarre oder eine Tabakpfeife zu geniessen, wie ich das drei- oder viermal in der Woche mit Vergnügen tue, ohne damit jemanden zu belästigen, kann wohltuend entspannende Wirkungen haben. Man braucht im Anschluss daran, nur weil man die Nikotin-Hemmschwelle überschritten hat, noch lange nicht jeden Tag 30 oder 40 Zigaretten zu rauchen, was eine Kulturlosigkeit wäre. Der bekannte Kräuterpfarrer Johann Künzle hat im hohen Alter mit dem Stumpenrauchen begonnen, um die Darmtätigkeit anzuregen.
Und weshalb soll ich einem Biobauern aus der Nähe nicht Fleisch von einer ausgedienten Kuh, die einen Namen hatte und anständig gehalten war, zu einem angemessenen Preis abkaufen, um daraus einen wohlschmeckenden Hackbraten zuzubereiten?
Ich kenne und schätze den Wert von Produkten aus Vollkorn; aber als Begleitung zu bestimmten Gerichten ziehe ich gelegentlich helleres, leichteres Brot vor.
Eine nachhaltige Nutzung der Tropenwälder trägt viel mehr zu ihrem Schutz bei als eine übereifrig angeordnete Boykottpolitik, die den Wald als weitgehend wertlos erklärt und sich nicht an den Bedürfnissen der dort lebenden Menschen orientiert. Selbstverständlich sind exzessive Kahlschläge, wo immer sie im Rahmen einer rücksichtslosen forstwirtschaftlichen Nutzung geschehen, eine Schandtat an der Natur - auch bei uns.
Wer aus dem Fernsehgerät bewusst die paar Rosinen herausholt, kann Nutzen daraus ziehen; man braucht ja nicht Abende lang gähnend davor zu sitzen und sich vor lauter Bildbetäubung der Verblödung entgegentreiben zu lassen.
Das Telefon oder Handy könnte man auch zurückhaltender anwenden, zum Beispiel einfach dann, wenn etwas Wesentliches schnell mitgeteilt werden muss oder auch in Notfällen. Dann leisten die Geräte beste Dienste. Man muss ja nicht laufend herumtelefonieren, Leute aufschrecken und stundenlang mit hohlem Geschwätz hinhalten und terrorisieren.
Und der omnipräsente Computer kann genau wie das Internet ein hervorragendes Mehrzweck-Instrument sein und zu mehr Freizeit verhelfen, wenn man ihm geistlose Routinearbeiten überträgt und dadurch für schöpferische Arbeiten frei wird.
Es braucht im Leben oft eine Absage an ein fundamentalistisches Denken und Handeln. Am besten ist es, sich durch ein ständiges Aneignen von Wissen und durch kritisches Nachdenken in die Lage zu versetzen, Nutzen und Risiken eines Verhaltens abzuschätzen und individuell, d.h. seinen persönlichen Bedürfnissen entsprechend, zu handeln und zu reagieren. Dazu gehört selbstredend auch der Einbezug ethischer Überlegungen. Denn "Was das Gesetz nicht verbietet, das verbietet der Anstand" (Seneca).
Ausserhalb von gesetzlichen Vorschriften und von begründeten, sinnvollen Anstandsregeln geht es um die freie Gestaltung seines persönlichen Lebensstils und damit um die eigene Lebensqualität. Wer mit Mass gelegentlich zu sündigen versteht und seine Entscheidungsfreiheit behält, lebt wahrscheinlich nicht nur besser als der Enthaltsame, sondern sogar gesünder. Denn setzt man sich hin und wieder über sture, vielleicht ohnehin überholte Verhaltensdogmen bewusst hinweg, ohne irgendwo Schaden anzurichten, und behält man dabei sein gutes Gewissen, wird man gelöster und glücklicher sein als der ewig frustrierte Asket. Glücksgefühle sind gesundheitsfördernde Empfindungen.
Insgesamt war diese Betrachtung eine Ermunterung zu einem freudvolleren, aktiven und nach eigenen Vorstellungen gestalteten Leben. Es wäre ein Armutszeugnis, wenn man seine spärlichen Freuden nur aus 2. Hand beziehen müsste, etwa aus dem so genannten "Sauglattismus" der Unterhaltungsindustrie, zu der auch ein wachsender Anteil der Medien gehört. Eine aktive, gelöste, freudvolle, individuell gestaltete Lebensführung mit dem Mut zum wohldosierten Genuss ist ein Rezept, das man zumindest ausprobieren könnte. Abwandlungen und Würzen nach den eigenen Vorlieben sind immer erlaubt. Man wird ja schliesslich nicht nur älter, sondern auch reifer.
Walter Hess
Illustration: Jürg Furrer
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