Blattschneiderameisen:
Pilzzüchter aus Blattfragmenten
Zuerst arbeiten die Baumschneider: Die Blätter werden abgetrennt
Wer sich in Südamerika abseits der grossen Strassen bewegt, dem wird immer wieder ein einzigartiges Naturschauspiel zuteil: Auf dem sandigen Boden gibt es Kolonnen von einer Art kleiner Segelschiffchen, die sich alle in der gleichen Richtung bewegen, ein Miniaturverkehr auf unabsehbar langen Strässchen mit Tunneln, Brücken und Unterführungen - eine Verkehrslandschaft wie aus der Spielwarenabteilung für Liliputaner.
Bei genauerem Hinsehen erkennt man Ameisen, die grüne, aufgerichtete Blattfragmente auf sich tragen, welche bis 1 cm Durchmesser haben können. Ich habe solche Transportkolonnen im Pantanal, im Grenzgebiet Brasilien/Paraguay/Bolivien, ebenso wie im Urwald von Amazonien angetroffen. Es gibt sie in jeder Menge, und sie gehören in Landwirtschaftsgebieten zu den meistgefürchteten „Schädlingen“, wenn dieser anthropozentrisch wertende Ausdruck in Bezug auf ein Naturwunder überhaupt gestattet ist. Zu sehr bin ich ihrer Faszination erlegen, um ein solches Wort, das aus Abschätzigkeit und Verachtung hervorgegangen ist, ohne korrigierende Einschränkungen weiterzugeben.
Vom Baum zur Höhle
An einem frühen Morgen im August 1990 verliess ich die Hängematte am Tapajós-Ufer, einem der grossen Nebenflüsse des Amazonas, um auf der langgezogenen Sandbank auf Exkursion zu gehen. Zuerst erregte die im Ufersand hinterlassene Spur eines Alligators meine Aufmerksamkeit. Zwischen den beiden Reihen von Fussabdrücken zog sich ein kleiner Graben als Wellenlinie dahin, die Folge der Pflügarbeit des am Boden nachgeschleppten schweren Schwanzes. Das friedfertige Tier hatte den Fluss verlassen und sich zu einer Sumpfzone begeben, die sich hinter der Sandbank ausbreitete. Bei näherem Hinsehen fiel mir eine belebte Ameisenstrasse auf, die parallel zum Ufer verlief. Ich folgte den Kolonnen der unbeladenen Ameisen und kam zu einem Uferbusch mit fleischigen Blättern, die denjenigen unseres Lorbeerstrauches ähnlich sahen. Wie wenn die Angestellten eines Stadtbauamtes an Platanen auf Leiterhöhe alles abschnetzeln, was in Reichweite ihrer Hand- und Motorsägen ist, genau so durchtrennten die auf den Strauch gekletterten Ameisen mit ihren messerscharfen Kiefern die Blattstiele.
Transportable Stücke sind gefragt: Blattschneiderameisen zerschneiden die Blätter
Am Boden zerteilten Hunderte von Ameisen mit ihrem Mundwerkzeug die Blätter in transportable Stücke. Eine oder 2 Minuten genügen, um einen sauberen, leicht gebogenen Schnitt von 2 cm Länge durch das Blattgrün zu machen. Die Blattausschnitte und auch zerschnittene Blüten werden sodann von so genannten Soldaten über lange Wegstrecken zum Erdnest transportiert. Dabei halten die kräftigen Transporteure die Blattstücke zwischen den Kiefern wie Schirmchen, Segel oder Fahnen empor. Man nennt sie deshalb auch „Sonnenschirmameisen“. Es sieht wie bei einer Sandsegel-Regatta im Miniaturformat aus. Dann verschwinden die Ameisen mit ihrer Last, die bis zehnmal schwerer als sie selber sein kann, in einer Öffnung von 5 bis 10 cm Durchmesser im Boden. Die Gänge und Tausende von Kammern können sich bis zu 5 Metern Tiefe in den Boden ausdehnen, und die Nestöffnungen können 100 m weit verteilt sein. Ein spezielles System von Gängen dient der Zufuhr von Frischluft und Sauerstoff; die Temperatur wird bei 25 Grad C einreguliert.
Die Nester der Blattschneiderameisen sind die grössten, die es gibt. Berichte, wonach stehende Maultiere bei Regenwetter bis zum Kopf in solche aufgeweichten Nester einbrachen, tönen plausibel. Die Riesennester können mehrere Millionen Individuen fassen. Es gibt Hunderte von Arten und Rassen mit leicht modifizierten Verhaltensweisen, wiewohl ja die gesamte Ameisenwelt aus ausserordentlich eigenwillig agierenden Völkern besteht.
Pilzkulturen für den Eigenbedarf
In den unterirdischen Kammern, deren Grundfläche bis zu einem Quadratdezimeter betragen kann, werden die Pflanzenteile gereinigt, zerkaut, eingespeichelt und mit etwas Kot geimpft; denn Ameisen sind nicht in der Lage, grüne Blätter als Nahrung direkt (gewissermassen unzubereitet) zu verwerten. Die organische Masse bildet vielmehr einen hochwertigen Nährboden für Fadenpilze, deren systematische Zugehörigkeit ungewiss ist und die ausschliesslich in den Kammern der Blattschneiderameise vorkommen. Die Pilzkulturen werden durch die Ameisen fachmännisch betreut. Sekrete aus dem Hinterrücken der Ameisen dienen als Dünger, als Wachstumsförderer. Und bei der Arbeit das Vergnügen: Hier finden auch Begattungsakte statt. Die unterirdischen Pilzgärten sind zudem Wohnraum und „Kinderstube“" für die Brut.
Das „haut“: „Segel“-Herstellung mit dem gut geschliffenen Mundwerkzeug
Mit der Zeit bilden sich an den Enden der Pilzfäden knöllchenartige Verdickungen. Diese eiweisshaltigen Fruchtkörper dienen den Arbeiterinnen und den Larven als Nahrung. Laut „Grzimeks Tierleben“ ist es noch das Geheimnis dieser Ameisen, „wie sie es anstellen, dass in dem feuchten und dunklen Nest nur ein einziger Pilz in Reinkultur wächst“. Wenn das Kompostbeet erschöpft ist, wird es sauber aus dem Bau hinausgetragen und ein neues angelegt, eine Massnahme im Interesse der Nesthygiene.
Diese Mistbeetzucht betreiben die Vertreter der Gattung Atta am vollendetsten. In den untersten Abfallkammern nisten sich die kleinen Dungkäfer ein. Sie legen hier eigene Gänge an, füllen sie mit fein zerschroteten Blattresten und Erde. Darin können sich ihre Larven entwickeln. In der Natur profitiert jeder von jedem, und man hält sich gegenseitig in Schach oder schützt einander, je nachdem.
Wie sich die Ameisen ernähren
Die bei den Blattschneiderameisen übliche, aufwändige Art der Nahrungsbeschaffung und -aufbereitung ist unter den gegen 5000 Ameisenarten die Ausnahme. In der Regel haben die Ameisen kauend-leckende Fressorgane. Sie zerkleinern ihre Nahrung (leichtere Beutetiere, Läusekolonien usw.), verdünnen sie nötigenfalls mit Speichel und lecken sie mit Lippe und Zunge auf. Halb verdaute Nahrung, die den Eigenbedarf übersteigt, wird in einem Kropf zurückbehalten, eine Vorratshaltung, die der ganzen Kolonie zugute kommt.
Zusammenarbeit und Spezialistentum
Neben dem Menschen ist kein anderes Lebewesen in der Lage, so spezialisierte Gemeinschaften zu bilden wie die Ameisen. Dieser Umstand hat ihnen zu unserer Sympathie und auch zur Popularität verholfen. Die sozialen Strukturen und damit die Aufgabenverteilungen sind in Ameisenstaaten bemerkenswert; das Zusammenwirken funktioniert reibungslos. Ameisen betätigen sich als Gärtner, Vieh- bzw. Blattlauszüchter, Sklavenhalter, Wächter, und die Blattschneiderameisen sind, wie beschrieben, ausgesprochene Pilzzüchter. Bei dieser Art ist es die Aufgabe eines Weibchens, einer Königin, ein Nest zu gründen. Diese nimmt in jeder Tasche ihres Vorderdarms ein Knäuelchen Pilzfäden und etwas Nährboden mit auf den Hochzeitsflug. Dieses wird in der abgeschlossenen Bruthöhle mit den eigenen Ausscheidungen fleissig gedüngt. Damit wird die Grundlage für die Ernährung des künftigen Volkes geschaffen.
Die Arbeiterschaft ist sehr vielgestaltig zusammengesetzt: Wenige Millimeter lange Zwerge widmen sich vor allem der Arbeit im Nest. Zudem amtieren sie als Begleiter der grösseren Arbeiter (den Soldaten) auf den langen Wegstrecken. Sie haben dort die Schmarotzer abzuwehren. Bei gravierenderen Angriffen verteidigen sich die Arbeiter selber: Sie stürzen sich auf den Feind und können selbst menschliche Haut durchtrennen. Sie tun das nur im Notfall.
Die Sache mit den Schäden
Ameisen sind häufig, sozusagen omnipräsent. Zusammen mit Termiten, Bienen und Wespen machen sie 75% der totalen Insekten-Biomasse im amazonischen Regenwald aus. Auf einem einzelnen Baum des Regenwaldes konnten 43 Arten gezählt werden. Ihre ökologische Bedeutung ist noch kaum bekannt. Mit Sicherheit sind sie ein Bestandteil der Regelung von Insektenpopulationen (wie bei und die Roten Waldameisen ), auch innerhalb von Kakao- und Kokos-Plantagen. Die Blattschneiderameisen, die in Südamerika „Saúva“ genannt werden, können in einer einzigen Nacht einen ganzen Obstgarten kahlschneiden oder ein Kohlbeet vollständig abtragen. Ein dreijähriges Volk von Atta cephalothes soll 23 Kubikmeter Erde mit einem Gewicht von 40 Tonnen ausgehoben und 6 Tonnen Blätter eingetragen haben. Deshalb gibt es den folgenden (masslos übertreibenden) Spruch: „Entweder Brasilien rottet die Saúva aus, oder die Saúva wird Brasilien vernichten.“
Fast wie eine Sand-Regatta: Transport der Blattfragmente zum Riesennest
Der ehemalige, inzwischen leider verstorbene brasilianische Umweltminister und Naturfreund José Lutzenberger hat sich dazu die folgenden Überlegungen gemacht: „Dieses Entweder-Oder kann nicht wahr sein. Ameisen gibt es seit mehr als 200 Millionen Jahren, und die Saúva betreibt sicher seit einigen Dutzend Millionen Jahren ihr Blattschneide- und Pilzpflegegeschäft. Da es kaum eine Pflanzenart gibt, ob Baum, Busch, Strauch, Kraut, Schling- oder Schwimmpflanze, die nicht gelegentlich von der Saúva abgetragen wird, hätte eigentlich schon vor Millionen Jahren Schluss sein müssen.“
Welche Pflanzen sind es denn, die von Ameisen bevorzugt werden? Lutzenberger: „Wer genau beobachtet, statt gleich zu Giftködern zu greifen, muss immer wieder feststellen, dass am Ende der langen Strassen Pflanzen abgetragen werden, von denen es näher am Baueingang oder entlang der Strasse auch noch andere Exemplare gibt, die nicht geschnitten werden . . . zwei interessante, konkrete Beispiele: In einem unserer organischen Gemüsegärten sind wir längst so weit, dass uns die Saúva nicht mehr belästigt. Ich wage, ein ökologisches Gesetz für die Saúva vorzustellen: Gesunde Bodengare und Ärger mit der Blattschneiderameise sind umgekehrt proportional. Wenn unsere Böden in Ordnung sind, respektiert die Ameise unseren Zaun. Unglaublich! Dies sieht man auch ganz klar auf Weiden. Wo eine kranke Weide neben einer gesunden liegt, bleibt die Ameise auf der schlechten Weide.
Bei der Kohlernte machten wir eine interessante und bedeutsame Beobachtung: Auf dem Beet stehen noch intakte Kohlköpfe, dazwischen die Stümpfe der geernteten Pflanzen, und auf dem Boden liegen die halbwelken äusseren Blätter der geernteten Köpfe. Aus zirka 70 m Entfernung kommt eine Ameisenstrasse. Sie fächert auf das Beet aus. Das ganze Beet wird bearbeitet, aber die Ameisen schneiden nur die auf dem Boden liegenden welken Blätter. In pfenniggrosse Stücke zerlegt, werden sie abgeschleppt.
Kein einziger der stehenden intakten Kohlköpfe wird berührt. Jeder konventionelle Gärtner oder Agronom würde sofort Aldrin- oder Mirex-Köder streuen. Wir beobachteten die interessanten Tierchen und freuen uns, dass unser Boden schon ganz schön in Ordnung ist. Als es keine angewelkten Kohlblätter mehr gab, verschwanden die Ameisen wieder dort, von wo sie hergekommen waren, in einem Dickicht neben dem Garten.“
Lutzenberger erzählt dann von einem Tibouchina-Busch innerhalb einer Eukalyptus- Plantage. Es wurde ausgerechnet jener Busch von den Ameisen attackiert, dessen Wurzelwerk am Vortag von einer Planierraupe zur Hälfte weggeschnitten worden war. Zudem werden auch bevorzugt frisch gepflanzte Setzlinge abgetragen. Die dazwischen stehenden Keimlinge werden aber nicht berührt. Noch einmal Lutzenberger: "Die Forstbehörde verlangt auf den von ihr subventionierten grossen Akazienplantagen, dass Baumschulen angelegt werden, in denen von vorneherein mit Fungiziden und Insektiziden gearbeitet wird. Beim Auspflanzen müssen die Ameisen mit Giftködern bekämpft werden. Wenn Kleinbauern, natürlich ganz ohne Subventionen, kleine Akazienplantagen anlegen, dann ziehen sie es vor, ihre Bäumchen direkt zu säen. Die Ameise ist dann kein Problem.“
Diese Ausführungen sind ein Lehrstück in Bezug auf die Insektenregulierung, weit über den Einflussbereich der Blattschneiderameisen hinaus. Hier sind tatsächlich ökologische Gesetze im Spiel. Wir wissen ja auch, dass unsere einheimischen Nacktschnecken eine Vorliebe für welke Pflänzchen haben - und frisch gepflanzte, noch schwächliche Setzlinge sind eben zuerst in einem Stadium des Welkens. Man kann die Erkenntnisse ausbauen: Aus verpflanzten Setzlingen herangezogene Pflanzen sind ihrer Lebtag schwächlicher (und "schädlingsanfälliger) als solche, die aus einem Samen an ihrem definitiven Platz heranwachsen durften. Naturverjüngte Wälder sind stabiler als gepflanzte Försterwäldchen, die zu Borkenkäfer-Biotopen werden.
In unserem ökologischen Unverständnis bekämpfen wir nicht Fehler im Garten-, Land- und Waldbau, sondern man startet zum Chemiekrieg gegen die Regulationsinsekten. Wie bei unseren ehemaligen einfältigen, dümmlichen „Waldputzeten“ (Kremation von Ästen und Stauden bei starker Rauchentwicklung), so wird auch in Brasilien alles Totholz in Akazienforsten sofort verbrannt, weil dort der Serrador, ein prächtiger Käfer, für etwas vielfältigere Pflanzengemeinschaften sorgen will.
Bei allem Einfallsreichtum in der Natur: Gewisse Gesetzmässigkeiten gelten durchs Band. Solange man sie mit Giften und Ausrottungsbemühungen lösen will, ist man auf dem Holzweg. Wir sind den Blattschneiderameisen und José Lutzenberger dankbar, dass sie uns die Augen geöffnet haben.
Walter Hess
Verwendete Literatur Karl Gösswald: „Organisation und Leben der Ameisen“, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH., Stuttgart 1985. Bernhard Grzimek: „Enzyklopädie des Tierreiches. 2. Band (Insekten)“, Kindler Verlag AG, Zürich 1965. Bert Hölldobler und Edward O. Wilson: „The Ants“, Springer-Verlag, Berlin 1990. José Lutzenberger und Michael Schwartzkopff: „Giftige Ernte (Tödlicher Irrweg der Agrarchemie, Beispiel: Brasilien)“, Eggenkamp-Verlag, Greven 1990. Franz R. Schmid: „Wunderwelt der Ameisen“, Verlag Hallwag, Bern 1985.