Textatelier
Ohne Federlesens fulminant gestartet

Ohne Federlesens fulminant gestartet

Aller Anfang ist leicht: Das Textatelier, das während fast eines Jahres vorbereitet worden war, lief am 1. Juli 2002 offiziell an und hat inzwischen nicht nur viele massgeschneiderte Schriftstücke und Homepages, sondern auch ausschliesslich zufriedene Kunden produziert. Da wir ja Vertraulichkeit garantieren, können wir nicht alles namentlich auflisten, was in diesem Jahr geschehen ist. Wir müssen uns auf einige öffentlich bekannte Taten beschränken.

Die schwungvoll bewegte Feder ist nicht alles: Eines der Paradestücke der Textatelier-Leistungen war im Berichtsjahr die konzeptionelle und künstlerische Neugestaltung der Homepage www.oecovita.com durch den Internettechniker Urs Walter und die wissenschaftliche Illustratorin Sonja Burger, eine technische und gestalterische Meisterleistung. Es ging hier um den Internet-Auftritt einer Firma, die erkannt hat, dass sich das schulwissenschaftliche Denken in einer Sackgasse verrannt hat und die nach weiterführenden Dimensionen Ausschau hielt und hält. Das Gründerehepaar der Oecovita AG, Christa und Hardy Burbaum, bemühen sich um die Entschlüsselung von verborgenen Wirklichkeiten unter Einbezug der kosmischen Kräfte und Schwingungen, ähnlich wie sie bereits in altasiatischen Weisheitslehren anzutreffen sind, aber unter Einbezug der heutigen Gegebenheiten.

Es ist ähnlich wie beim alten Ernährungs- und Heilkundewissen: Die Vergangenheit holt die Gegenwart ein. Zunehmend wird erkannt, dass es auch nichtstoffliche Wirklichkeiten aus Schwingungen, Energieflüssen und wenig beachteten Kräften wie Gravitation, Magnetismus, Erdstrahlungen usf. gibt, die nun, angereichert durch neue Erkenntnisse, Grundlagen zu vollkommen neuen Lösungen sind, weit über rein mechanistische Inhalte hinaus, immer im Bemühen, zu wirklichen Einsichten im grösseren Zusammenhang zu gelangen. Für das viel zitierte ganzheitliche Denken reicht der menschliche Geist, der auf individuellen Wahrnehmungen aufbaut und auch immer wieder Fehlleistungen produziert, niemals aus. Aber man kann und muss sich bemühen, geistige Schranken zu überwinden. Wie das virtuell umgesetzt wurde, zeigt Ihnen ein Blick auf die Oecovita-Homepage.

Mein Bruder Rolf, der an unserem Schaffen intensiv Anteil nimmt und aus den Philippinen immer wieder originelle Zwischenrufe ertönen lässt, hat mir mehrmals das Folgende gesagt: Wenn man eine Firma gründe, sei der letzte Arbeitgeber immer der beste Kunde. Das kann ich inzwischen bestätigen. Die Mitarbeit an der bekannten Schweizer Zeitschrift "Natürlich", die ihren zivilisations- und umweltkritischen Kurs auch unter der Leitung von Petra Horat Gutmann und Alex Bieli (er verliess die Zeitschrift Ende Juni 2003; sein Nachfolger ist Christoph Schwyzer) beibehalten hat, war über Erwarten rege. Ich habe mich gefreut, mit meinen Erfahrungen, meiner während Jahrzehnten aufgehäuften Sachkenntnis und meinen riesigen Dokumentationen einen kleinen Beitrag zum Gelingen dieses einzigartigen publizistischen Werkes beitragen zu dürfen.

Ein grosser Teil der Mitwirkung betraf den Ratgeberbereich, dem ich mich mit besonderer Hingabe widme. Für mich ist jede Frage ein Wert: Sie zwingt, mich in ein bekanntes, weniger bekanntes oder gar unbekanntes Thema einzuarbeiten, was jedes Mal eine Horizonterweiterung bedeutet. Viele Knacknüsse führen mich in Richtungen, die ich aus freien Stücken nicht gewählt hätte.

Eine kürzlich eingetroffene Frage galt der Cortison-Synthese, eine der ehemals schwierigsten Aufgaben für die pharmazeutische Industrie. Aus eigener Forschungstätigkeit kenne ich diese einigermassen von innen heraus (Stand: 1960), brauchte aber einen halben Tag, um das Geheimnis zu lüften; heutzutage wird das entzündungshemmende, aber von Nebenwirkungen begleitete Cortison durch eine intensive gentechnische Veränderung einer speziellen Hefeart (Saccharomyces cerevisiae) auf einfachere Art hergestellt.

Die Ratgeber-Rubrik ist auch im Textatelier gefragt: Bereits sind 133 ausführliche Antworten auf teilweise komplexe Fragen online abrufbar. Die Suchmaschine www.alltheweb.com und andere haben sie mit der gebührenden Tiefenschärfe erfasst.

Ein besonderes Vergnügen war für mich die Mitarbeit am neu gegründeten Wegwarte-Verlag, Bolligen BE. Das Zentrum dieser Korbblüte ist der Meisterfotograf Fernand Rausser mit künstlerischem, sozial- und umweltkritischem Auge. Er will nun im relativ hohen Alter (in der Mitte der Siebziger) Schau-Bücher ohne Showeffekte machen, die genau seinen Vorstellungen entsprechen und die nicht einfach kommerziell ausgerichtet sind. Dazu hat er einen der besten Buchgestalter beigezogen: Eugen Götz-Gee, der vom vorhandenen Material ausgeht, jede Buchaufmachung auf die entsprechende Thematik abstimmt und auf Firlefanz und Klamauk konsequent verzichtet. Das entspricht meiner eigenen Auffassung von moderner Grafik vollumfänglich. Das Layout (äusserliche Gestaltung eines Druckerzeugnisses) hat sich nach dem Inhalt zu richten – im üblichen Druckmedienbereich ist das umgekehrt worden, mit katastrophalen Folgen.

Im neuen Rausser-Buch "Schweiz so oder so" ist der zusammengefasste Bildteil die dominante Grösse: Aufrüttelnde Gegenüberstellungen von wuchernden Zivilisations- und lebendigen, herzerfrischenden Naturlandschaften beispielsweise. Ich durfte dazu eine Betrachtung ("Abschied von der Naturbeziehung") schreiben: Was ist von Generationen zu erwarten, die in eine ausgeräumte oder verpfuschte Landschaft hineingeboren wurden? Jeder Mensch hinterlässt Spuren; er muss sich nur redlich bemühen, dass diese nicht störend oder gar zerstörend sind.

Viele Schreibaufträge sind geradezu darauf angelegt, Spuren zu hinterlassen. Oft weiten sich Firmenaufträge in eigentliche Betriebsberatungen aus. Denn wenn man etwas genau formuliert wie beispielsweise die Texte für Homepages, muss man sich über unternehmerische Strukturen und Ziele klar werden. Sobald etwas im grösseren Zusammenhang detailliert niedergeschrieben und strukturiert wird, verziehen sich die Nebel; man sieht plötzlich klar – ähnlich wie bei Immanuel Kant: "Sich im Denken orientieren", das heisst also modifiziert: sich schreibend orientieren. Selbstverständlich bringen wir unser publizistisches Wissen in jedem Fall ein – wir geben alles, um es salopp zu sagen. Wir identifizieren uns mit jedem Kunden und seinen speziellen Anliegen. Ganz besonders im Element sind wir selbstredend, wenn es um Fragen der Publizistik und anverwandter Gebiete geht.

Stellvertretend für viele Aufträge nenne ich 2 Kleinstaufträge, die aber Freude machten: Ein Bewerbungsschreiben für eine junge Dame in Österreich, die Ordinationshilfe (Sprechstundenhilfe) werden wollte, einerseits, und eine schulbehördliche Eingabe für eine Mutter in der Westschweiz, die ihre Kinder wegen eines gefahrvollen Schulweges in ein anderes Schulhaus schicken wollte, anderseits. Beide Anliegen wurden erfüllt. Ob unsere Briefe den Ausschlag gaben, glaube ich nicht; jedenfalls haben sie sicher mitgeholfen, die Ziele zu erreichen.

Das Briefeschreiben – etwas im persönlich ansprechenden Ton in eine kurze, angenehm zu lesende Form bringen – ist etwas vom Schwierigsten, was es in der Welt der Formulierungskünste gibt. Das ist mir bei der Vorbereitung eines dreiteiligen Kurses "Geschäftsbriefe" für die Anlageberater eines Bankunternehmens bewusst geworden. Ich habe mich tagelang mit den Gepflogenheiten auf diesem Gebiet herumgeschlagen, von der Bank überlassene Unterlagen und etwa 15 Fachbücher studiert. Das bisschen Weizen musste von der vielen Spreu getrennt werden. Meine eigenen Erkenntnisse aus über 4 Jahrzehnten Journalismus habe ich einfliessen lassen und schliesslich zu Mut zum Unkonventionellen und zum Handschriftlichen geraten, abseits abgedroschener Floskeln und langweilig gewordener Sitten und Unsitten.

Wenn Sie einen anspruchsvollen Brieftext haben möchten, können Sie mich gern testen, um festzustellen, ob ich selber von meinem eigenen Kurs etwas gelernt habe!

Weniger das Schreiben als vielmehr das Neuschreiben bereitet mir noch immer Mühe, auch wenn ich mich ständig mit dem Faszinosum Sprache befasse. Doch scheine ich damit nicht allein zu sein. Denn die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat bereits ein Büchlein "Zur Reform der deutschen Rechtschreibung. Ein Kompromissvorschlag" herausgegeben. Darin geht es darum, den grössten sprachreformerischen Bockmist, den ich ohnehin nie nachvollziehen mochte, rückgängig zu machen. So hiess es einst in vielsagender Weise vielversprechend, dann viel versprechend (getrennt geschrieben) und nach neuem Vorschlag der Deutschen Akademie wieder vielversprechend. Das ehemalige Kombiwort wohlüberlegt, das nach der Reform unbedingt getrennt geschrieben werden musste, soll jetzt wieder getrennt oder zusammengeschrieben werden dürfen, je nach Aussage: Einer hat etwas wohl überlegt (im Sinne: es ist anzunehmen, dass er sich die Sache überlegt hat) oder wohlüberlegt (im Sinne von gut überlegt). Diese sprachliche Differenzierung haben die kopflosen Sprachreformer eine Zeit lang verunmöglicht. Jetzt mussten sie wohl selbst einsehen, dass das zu einer unpräzisen Ausdrucksweise und zur Verarmung der Sprache beitrug.

Ich erwähne das, um auf die enorme und schwierige Korrekturarbeit überzuleiten, die unser Textatelier-Korrektor Hans Kurt Berner nach wie vor leistet. Mag ich einen Bericht noch so gut überarbeitet und bei eingeschaltetem Computer-Korrektur-Programm mehrmals kontrolliert haben, immer wieder ertappt er mich bei Fehlern, die wir uns nicht leisten wollen und können. Aber es gibt sie dennoch.

Unsere Textatelier-Homepage wird ständig mit neuen Beiträgen hinterlegt und angereichert – Urs Walter leistet unentwegt eine Herkulesarbeit und möbelt zudem auch das Textatelier-Büro ständig elektronisch auf: Bereits 3 verschiedene Computer und ebenso viele Drucker, 2 Hubs (Drehscheiben) und Server stehen darin; auch ein professioneller Scanner wurde angeschafft. Unter anderem weil das Textatelier in Biberstein AG räumlich aus allen Nähten zu platzen scheint, wurde im Wintergarten an der Südfront ein naturklimatisiertes Freiluftbüro mit Anschluss ans Netzwerk installiert – und alles funktioniert tadellos.

Die Technik ist das eine, die Prosa und Lyrik das andere. Auch diesbezüglich werden wir beständig mit Geschenken von guten Geistern überschüttet. Dafür und auch für andere weiterführende Impulse danke ich Bettina Bauer, Rita Lorenzetti, Wigand Ritter, Heinz Scholz und vielen anderen herzlich. In den Kreis der wertvollen Textatelier-Stützen beziehe ich ausdrücklich auch meine liebe Tochter Anita Hess ein, die ein ausgesprochenes Sprachgefühl hat und in endkorrigierten Texten immer wieder noch Unebenheiten ortet und ausbügelt.

Soweit ein paar Lichtblitze auf Ereignisse aus dem 1. Textatelier-Jahr. Diese Anlaufphase hat mich in der Hoffnung bestärkt, dass es auch oder gerade heute möglich ist, ein kleines Unternehmen zu gründen und erfolgreich zu führen. Wichtig sind der Mut zum Unkonventionellen, eine einfühlsame und exakte Arbeit und möglichst kurze Lieferfristen. Was immer möglich ist, wird im Textatelier noch am gleichen Tag (oder in der folgenden Nacht) erledigt; nur Grossauträge und Wunder dauern etwas länger.

Dann sind wir am nächsten Morgen wieder für neue Aufgaben frei.

Walter Hess, 30. Juni 2003


Der Mususkuss - Begrenzte Möglichkeiten der Mundartlyrik?

Der Mususkuss

Ich schritt dahin
durch Liestals Tal des Bin,
und nichts zu tun, das war mein Sinn.
Im Walde hüpfte froh ein Has,
die Kühe lagen faul im Gras,
die Tannen rauschten mysterius –
da trifft er mich: der Mususkuss.

Quelle: „33 x Liebe“, Gedichte von Lislott Pfaff, Summervogel-Verlag, CH-4410 Liestal, ISBN 3-9522751-0-7

Begrenzte Möglichkeiten der Mundartlyrik?

Eine kritische Bestandesaufnahme von LISLOTT PFAFF aus CH-4410 Liestal

Die poetischen Möglichkeiten der Mundart seien begrenzt, meinten die Herausgeber der neuen Anthologie "Die schönsten Gedichte der Schweiz", Peter von Matt und Dirk Vaihinger, in einer "Nachbemerkung" zu diesem Buch, in dem auch 22 schweizerdeutsche Mundarttexte vorgestellt werden.

Mit Recht hat sich die Berner Schriftstellerin Barbara Traber, die beileibe nicht nur Dialekt schreibt, über diese simplifizierende Behauptung geärgert und deshalb den beiden Herausgebern in einem engagierten Brief ihre fundierten Gegenargumente dargelegt. Sie erwähnte darin die Sprachexperimente und Sprachspielereien von Eugen Gomringer, Kurt Marti und Ernst Eggimann, die politischen Lieder von Ernst Born und so weiter, um zu illustrieren, dass die formale und inhaltliche Vielfalt der Dialektlyrik längst sämtliche Grenzen sprenge.

Diese literarische Fehde fand ihren Niederschlag im Mundart-Forum des Vereins Schweizerdeutsch vom Dezember 2002, in welchem die Redaktion neben dem Brief von Barbara Traber auch ein "Sonett an die Schweizer Mundartdichter, die mich als Feind der Mundartliteratur verschreien", verfasst von Peter von Matt, veröffentlichte:

Uf fifzä Värslibrinzler chund ei Dichter,
Dä hed si stille, schaffd a fiine Sache
Und freit si dra und will kei Wäsig mache
We disi andere vierzä suire Gsichter.

Die lärmid ume, tind we Oberrichter.
Wenn eine si nid riämd, de fands aa krache,
Blagierid luit und lang mit ihrne schwache
Gedichtili, die lyrische Chingilizichter.

Da hend er eppis z chätsche! Gänd nur zrugg!
Lügid, verlimdid, fand nur wider aa!
Ier machid doch kei Elefant usere Mugg.

Wer eppis wärt isch, bruichd kei Grossi z haa.
Dä schaffed sträng fir siich und laad nid lugg,
Und pletzlich, luitlos, isch es Kunstwärch da!

Sonett in der Baselbieter Mundart
In seinem Begleitschreiben erwähnte der Germanist, Literaturkritiker und Buchautor Peter von Matt (von Radio und Fernsehen her bestens bekannt), dass er mit diesem Sonett auf "alles mögliche Böse, die er von Seiten der Mundartdichter über sich gehört" habe, auf unsachliche Weise antworten möchte. Dies rief von meiner Seite eine ebenso unsachliche Entgegnung hervor in Form eines "Sonetts in der Baselbieter Mundart", das in der Folge im März 2003 im zuvor erwähnten Organ des Vereins Schweizerdeutsch abgedruckt wurde:

S Wort "Värslibrünzler" z bruuche, dunkt mii mys,
und d Dichterwält mit Note z diirygiere.
Mit "Chüngelizüchter" d Lyrik z arrangschiere,
uf andere ummeztrampe, isch doch fys.

Statt luut am Radio schwätzt dr Dichter lys,
het kei Profässer, zum en z proteschiere.
Sy Name chaa nit mit eme "von" brilliere –
bi so eim längt's au nit zum Hebel-Prys.

E sone Dichter het kei PR-Drummle,
me gseht en nit bi de berüehmte Gsichter.
Er darf nit inere Jury ummefummle...

Erscht wenn er tot isch, wird sy Kunscht zum Richter:
Im Grab, do chaa kei Fäderfuxer schummle,
im Grab wird mängen erscht zum grosse Dichter.

Man muss ja schliesslich beweisen, dass man's auch kann, nicht wahr? Zu dieser Replik schrieb ich dem Redaktor Thomas Marti, dass ich damit auf der "originellen Ebene" (wie Marti diese Form der Konfliktbewältigung bezeichnete) des Disputs bleiben wolle. Ich habe die Mundart – in meinem Fall den Baselbieter Dialekt – beim Verfassen von Texten in der Schriftsprache immer als bereichernd empfunden. Aber leider ist es offenbar sehr schwierig, die Literaturwissenschaftler davon zu überzeugen, dass die Lyrik unserer Mund-Arten (im besten Sinne des Wortes) längst von ihrem folkloristischen Touch befreit ist.

Auch in der afrikanischen Literatur empfinden Schriftsteller, "die sich in ihrer Lokalsprache äussern, dies wie eine Befreiung, da sie dann eine viel direktere Atmosphäre einfangen können und viel umfangreichere, treffendere sprachliche Mittel haben" (Walter Hess in einer Mitteilung an mich vom 15.4.03). Wie bei uns fehlt auch in Afrika den einheimischen Sprachen der Markt, was wohl weltweit ein Handikap für solche Literatur darstellt.

Mundart ohne "genus grande"?
Aus einem Aufsatz von Jürg Bleiker im Mundart-Forum vom März 2003 geht hervor, dass Peter von Matt sich an einer Germanistentagung im Jahr 2002 noch über zwei "grundsätzlichere Begrenzungen" der Mundart geäussert hatte: Erstens kenne die Mundart kein "genus grande", also keinen erhabenen, pathetischen Stil, der Emotionen weckt. (Jürg Bleiker bezeichnet es als den gewaltigen Orgelton, welcher der Schriftsprache als Register zur Verfügung steht.)

Dazu möchte ich anmerken, dass man entweder blind oder voreingenommen sein muss, wenn man zum Beispiel dem alemannischen Hebel-Gedicht "Die Vergänglichkeit" die grossartige rhetorische Gestik des "genus grande" abspricht. In diesem unvergänglichen Text über die Vergänglichkeit entwirft Hebel in einem Dialog zwischen Vater und Sohn ein zeitloses apokalyptisches Gemälde, das jeden Vergleich mit der grossen schriftsprachlichen Literatur aushält. Die visionäre Erhabenheit dieses Gedichtes wurde mir erstmals nach der Sandoz-Brandkatastrophe vom 1.11.1986 so richtig bewusst, besonders beim Lesen der eindrücklichen Zeilen

Isch Basel nit e schöni tolli Stadt?
S sin Hüser drinn, s isch mengi Chilche nit so gross (...)

Drob röthet si der Himmel, und es dundered überal...…(...)
Der Bode schwankt (…), d Glocke schlagen a...(...)
Der Himmel stoht im Blitz und d Welt im Glast (...)
Und endlich zündet s a und brennt und brennt...

(Rechtschreibung nach Allemannische Gedichte von J.P. Hebel, 7. Auflage, Sauerländer 1923.)

Da kann einen der gleiche Schauer anwehen, der von den schweren Klängen des "genus grande" herüberkommt (Jürg Bleiker im Mundart-Forum). Und gerade heute, kurze Zeit, nachdem es im Irak "überal dundered, der Bode gschwankt het und der Himmel im Blitz und d Welt im Glast gstanden isch", haben diese Zeilen wieder eine erschreckende Gültigkeit (Frühjahr 2003).

Johann Peter Hebel ist ja nicht der einzige Mundartdichter, der solche schweren Klänge hervorgebracht hat. Es ist also nicht einzusehen, weshalb gerade der Dialektliteratur das "genus grande" abgehen sollte. Ich würde sogar sagen, dass die Mundart dank ihrer Direktheit und Bildhaftigkeit geradezu für erhabene Emotionen prädestiniert ist.

Um seine Behauptung zu untermauern, zitierte von Matt an der erwähnten Tagung als Beispiel für das "genus grande" in der Schriftsprache die letzte Strophe aus Gottfried Kellers "Abendlied":

Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt:
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluss der Welt.
In freier Übertragung, so fand ich, lässt sich auch dies in ein mundartlich formuliertes Bild umsetzen. Ich habe es versucht und bin zu folgendem Resultat gekommen:

Wenn my Wanderstab verlore chlopft,
zahl i ellei dr Obesunne ihre Sold:
Trinket, Auge, vo däm flüssige Gold,
wo gross wie d Wält dur myni Wimpere tropft.
Sicher wären überzeugendere Mundart-Versionen dieser weltberühmten Gedichtstrophe von Gottfried Keller möglich, aber unmöglich ist eine solche Umsetzung bestimmt nicht.

Das "Manko" der Dialektdichtung
Als zweite Begrenzung der Mundart nannte Peter von Matt "das Fehlen vorgeprägter Formulierungen und geflügelter Worte". Für dieses Manko, würde ich sagen, kann die Dialektdichtung nur dankbar sein. Es ist wahrhaftig nicht gerade ein Qualitätsmerkmal von hochstehender Literatur, wenn sie mit Gemeinplätzen wie "Jenseits von Gut und Böse" usw. angereichert ist. Im Gegenteil: Ernstzunehmende Literatur sollte originell sein, die Texte sollten aussergewöhnliche Bilder, unerwartete Wendungen oder Sätze enthalten. Und gerade diese Vorzüge kann die Mundart bieten, wie unter anderem die – leider vergriffene – Anthologie "gredt u gschribe" (Sauerländer 1987) zeigt, die eine grosse Vielfalt von Mundarttexten in Lyrik und Prosa vereint.

In einer Epoche wie der unseren, wo von den Amerikanern ein globales PR-Büro (Office of Global Communications) gegründet wird, um ihre Marketing-Strategie in Sachen Krieg (aus "Die Welt", 2.3.2003) skrupellos zu betreiben, in einer solchen Epoche ist es besonders für kleine Länder wichtig, nicht nur ihre politische, sondern auch ihre sprachliche Eigenständigkeit zu betonen. Sonst ersticken wir schliesslich im schludrigen Einheitsbrei des angloamerikanischen Slangs, der sich immer mehr über die ganze Welt ergiesst.

Dieser Slang besteht hauptsächlich aus politischer, technokratischer und nicht zuletzt kommerzieller Propaganda. Unsere vielfarbigen Dialekte könnten – wenn auch nur in einem sehr beschränkten geografischen Rahmen – einen gewissen Widerstand gegen diese psycholinguistische Werbeflut aufbauen. Irgendwo muss man ja damit anfangen, und in diesem Fall habe ich ausnahmsweise nichts gegen einen angloamerikanischen Slogan: "Small is beautiful". In Bezug auf unsere Dialekte würde ich sagen: Klein, aber fein. Und was klein und fein ist, braucht Pflege. Die Begrenztheit überwindet sich dann von selbst.

* * *

Warum Dialektgedichte?
Weil die Mundart unsere Muttersprache ist und weil ein Dichter nicht in erster Linie Schrift-Steller ist, sondern Sprecher – oder sogar Hörer. Er spricht das nach, was er mit seinem inneren Ohr hört, und das ist logischerweise seine Muttersprache, eben die Mund-Art. Und wenn ihm sein inneres Ohr den Wort- und Satzrhythmus schon fixfertig liefert, weshalb sollte er dann etwas Anderes, etwas Fremdes daraus machen?

* * *


Fundstücke aus der Leserpost

Fundstücke aus der Leserpost


Für den Rummel um die Lungenkrankheit nichts übrig:
Botschaft eines Sars-Mundschutzes

Sars bietet neue Dekorationsmöglichkeiten: Die ansteckende Lungenkrankheit namens Sars hat dazu geführt, dass sich viele Menschen in den Metropolen des Fernen Ostens nur noch mit Mundschutz ins Freie getrauen. Die Hongkonger Sekretärin Yvonne Chan hat ihr Dekorationstalent genutzt, um solch neuen Seuchen auf ihre persönliche Art zu begegnen und mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen.
Foto: Rolf P. Hess


Sars-Auswüchse in Vietnam

Angenagte Bäume: Gefahr für Köpfe aller Art

Leserreaktion zum Rundbrief 6

Vielen Dank für den wiederum ausgezeichneten Rundbrief Nr. 6. Besonders angetan war ich von den köstlichen Bemerkungen über die Biber.

Kürzlich entdeckte ich auf einer Wanderung von Full nach Leibstadt (Kanton Aargau) unzählige angenagte und gefällte Bäume in den Rheinauen. Hier hatte der Biber gewütet. Aber nicht nur in diesem Areal, sondern auch in anderen Bereichen: Besonders vergriffen haben sich die "Feinschmecker" an kräftigen und saftigen Birken am Rande des Rheinuferwegs.

Die Ortsverwaltungen wollten nicht warten, bis die Bäume auf die wertvollen Köpfe müder Wanderer fallen. Sie schritten zur Tat und fällten vorsorglich die besonders malträtierten Bäume. Intakte Bäume – es waren auch einige Obstbäume dabei – wurden mit einem Maschendrahtgitter geschützt.

Heinz Scholz

* * *