Textatelier
Wie schreibt man denn jetzt?

Wie schreibt man denn jetzt?

Vom reformierten reformerischen Nonsens zum wandlungsfähigen Regelbrei

Autor: Walter Hess

Die deutsche Sprache sollte sanft und ehrfurchtsvoll zu
den toten Sprachen abgelegt werden, denn nur die Toten
haben die Zeit, diese Sprache zu erlernen.
Mark Twain (1835–1910)

Seid innovativ! Das ist der Schlachtruf dieser neoliberalisierenden Zeit. Daraus ist eine eigentliche Veränderungswut entstanden, wobei die meisten Produkte der Manie erlegen sind, Bestehendes mit Bleigewichten zu versehen und über Bord zu werfen, um ganz sicher zu sein, dass es nie, nie mehr auftaucht. Loslassen lautet das moderne Zauberwort, das für die Wegwerfgesellschaft wie geschaffen ist. Rohstoff- und Energieverschwendung um des Umsatzes willen. Die Produzenten stellen sich darauf ein und sorgen dafür, dass Reparaturen entweder verunmöglicht sind oder sich nicht mehr lohnen.

Allerdings ist, was da an Innovationen herauskommt, oft nur ein billiger Abklatsch anderweitig bestehender Erfolgsmodelle. Sogar die Fernsehstationen entblöden sich nicht, ihren unbändigen Nachahmungstrieb auszuleben. Unbesehen werden Formate und ganze Serien übernommen, meistens aus den USA, weil sie Niveausenkungen garantieren und damit vermeintlich für bessere Quoten gut sind. Das Abkupfern ist zum medialen Lebensstil geworden – immer im Zeichen der „Erneuerung“, die oft ein Herlaufen hinter so genannten Vorgaben ist – selbst an der Börse, wobei die sklavisch befolgten Vorgaben von der Wall Street kommen. Da braucht es schon Bretter beziehungsweise Mauern vor dem Kopf.

Positiv besetzte Innovationen
Eine grundlegende Fehlkalkulation besteht darin, dass Erneuerungen a priori als etwas Sinnvolles, Erstrebenswertes, Weiterführendes gelten. Genau das sind sie nicht oder meistens nicht. Sie können die ganze Bandbreite von Dummheiten mit Zerstörungseffekten (siehe Swissair-Management) über Gleichwertigkeiten bis (in Ausnahmefällen) zu tatsächlichen Verbesserungen aufweisen.

Rechtschreiberische Verirrungen
Ein bezeichnendes Beispiel für einen destruktiven reformerischen Nonsens ist die missglückte Rechtschreibreform, welche der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ in die Welt der deutschen Orthographie gesetzt hatte. Da wurde die Getrennt- und Zusammenschreibung blindlings zerhackt, bis der Wortsinn im Eimer war; die Gross- und Kleinschreibung und die Zeichensetzung wurden ohne Rücksicht darauf, dass die Verständlichkeit das Wichtigste am Sprachgebrauch sein sollte, durch den Fleischwolf gedreht, so dass am Ende niemand mehr drauskam und sich ein regelrechter Rechtschreibkrieg entfaltete; wahrscheinlich wären selbst Buchstaben zu Kleinholz verarbeitet worden, wenn sich das hätte machen lassen. Die echt innovativen Entgleisungen erzwangen dann Reformen der Reformen, die endlich in die neue „Amtliche Rechtschreibung“ mündete, welche nach all den Vorgeschichten ihre Anziehungskraft verloren hat. Wird wohl auch sie bald wieder abgeändert? Sie gilt nach dem Willen der Kultusministerkonferenz und der Ministerpräsidentenkonferenz seit dem 1. August 2006 und ist die innovative Überarbeitung des missglückten „Amtlichen Regelwerks 2004“, das sein 2. Lebensjahr nicht überdauert hat.

Der Triumph der Flexibilität
Edel sei der Mensch, flexibel und gut. Und genau daran erinnerten sich auch die Sprachkoryphäen. Sie setzten auf dehnbare Lösungen, ähnlich den Gummiparagraphen in Gesetzgebungen. Und so bleibt denn überall, wo sich selbst die im sprachlichen Labyrinth gereiften Germanisten nicht einig waren, etwa bei flektierten und abgeleiteten Wörtern eine Wahlmöglichkeit erhalten.

So schreibt man jetzt e oder ä in Wörtern wie

  • Schenke / Schänke (wegen ausschenken / Ausschank ),
  • aufwendig / aufwändig (wegen aufwenden / Aufwand ).

Bei der Integration entlehnter Wörter kann freundlicherweise zwischen der fremdsprachigen Schreibung und einer integrierten Schreibung gewählt werden:

  • Drainage – Dränage, Mayonnaise – Majonäse, Mohair – Mohär, Polonaise – Polonäse, Bouclé – Buklee. Doublé – Dublee, Café – Kaffee (mit Bedeutungsdifferenzierung), Sauce – Sosse, Bouquet – Bukett, Coupon – Kupon, Nougat – Nugat, Photographie – Fotografie, phantastisch – fantastisch, Spaghetti – Spagetti, Yacht – Jacht, Thunfisch – Tunfisch, substantiell – substanziell.
  • Für das scharfe (stimmlose) [s] nach langem Vokal oder Diphthong (= Doppellaut) wie Maß, Straße, heißen schreibt man außerhalb der Schweiz eben mit ß. Uns Tellensöhnen und -töchtern in der Alpenrepublik, wo wegen der grassierenden Vielsprachigkeit dieses Scharf-S (Eszett) auf der Tastatur schon im Schreibmaschinen-Zeitalter keinen Platz mehr fand, bleibt das vertraute ss erhalten. Auch diesbezüglich gibt es also gewisse Wahlmöglichkeiten, vor allem in der Gestalt landestypischer Unterschiede.

Auch die ehemaligen missglückten Regeln über Zusammen- und Getrenntschreibung wurden korrigiert, damit die Verständlichkeit wieder einigermassen gewährleistet ist:

  • wohl fühlen – wohlfühlen, schwer beschädigt – schwerbeschädigt.

In vielen Fällen bleibt es dem Schreibenden überlassen, getrennt oder zusammenzuschreiben:

  • klein schneiden – kleinschneiden, kalt stellen – kaltstellen, kaputt machen – kaputtmachen.

Verbindungen aus 2 Tätigkeitswörtern werden immer getrennt geschrieben:

  • laufen lernen, arbeiten kommen, baden gehen.

Aber bei bleiben und lassen als 2. Bestandteil ist bei übertragener Bedeutung auch eine Zusammenschreibung möglich:

  • sitzen bleiben – sitzenbleiben (= nicht versetzt werden), kennen lernen – kennenlernen (Erfahrung mit etwas oder jemandem haben), liegen bleiben – liegenbleiben (= unerledigt bleiben).

Verbindungen mit sein werden getrennt geschrieben:

  • beisammen sein, fertig sein, vonnöten sein, vorhanden sein, zufrieden sein.
  • Auch bei der Konjunktion so dasssodass kann der Schreiber frei wählen ...
  • ... ebenso bei Fügungen in präpositionaler Verwendung: anstelle – an Stelle, aufgrund – auf Grund, aufseiten – auf Seiten, mithilfe – mit Hilfe, zugunsten – zu Gunsten, zulasten – zu Lasten.

Selbst in der Gross- und Kleinschreibung sind die Regeln aufgeweicht:

  • Wenn hundert und tausend eine unbestimmte (nicht in Ziffern schreibbare) Menge angeben, können sie auch auf die Zahlsubstantive Hundert und Tausend bezogen werden; entsprechend kann man sie dann klein- oder grossschreiben, zum Beispiel: Es kamen viele tausende / Tausende von Zuschauern. Sie strömten zu aberhunderten / Aberhunderten herein. Mehrere tausend / Tausend Menschen füllten das Stadion. Der Beifall zigtausender / Zigtausender von Zuschauern war ihr gewiss. Entsprechend auch: Der Stoff wird in einigen Dutzend / dutzend Farben angeboten. Der Fall war angesichts Dutzender / dutzender von Augenzeugen klar.

Verständlichkeit über alles
Wer also etwas Sprachgefühl hat, wird automatisch die für den Einzelfall richtige Lösung finden, und diese hat sich immer auf das Leserbedürfnis nach Verständlichkeit auszurichten. Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der Zeichensetzung, die eine wichtige Bedeutung für das verstehende Erfassen hat, indem sie zur Gliederung der Wortansammlungen (des Satzganzen) beitragen; auch Einschübe mit einem paarigen Komma:

  • Er sagte, dass er morgen komme, und verabschiedete sich. Mein Onkel, ein grosser Tierfreund, und seine Katzen leben in einer alten Mühle. Sie fragte: „Brauchen Sie die Unterlagen?“, und öffnete die Schublade.

In einigen Fällen ist auch die Kommasetzung nach Lust und Laune möglich:

  • Morgen wird es regnen, angenommen(,) dass der Wetterbericht stimmt. Wir fahren morgen, ausgenommen(,) wenn es regnet. Ich glaube nicht, dass er anruft, geschweige(,) dass er vorbeikommt. Ich glaube nicht, dass er anruft, geschweige denn(,) dass er vorbeikommt. Ich komme morgen, gleichviel(,) ob er es will oder nicht. Ich werde ihnen gegenüber abweisend oder entgegenkommend sein, je nachdem(,) ob sie hartnäckig oder sachlich sind. Egal(,) welche Farbe sie sich aussucht, sie wird immer gut aussehen.

Viele Publikationsorgane haben eigene Hausregeln zusammengestellt, damit wenigstens innerhalb der gleichen Blätter Ordnung herrscht und der Leser nicht durch unterschiedliche Schreibweisen der gleichen Wörter unnötig verwirrt wird.

Das Schreiben: Auslegeordnung strukturierter Gedanken
Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass beim Schreiben der wesentliche Prozess darin besteht, seine Gedanken zu ordnen und diese in einer vernünftigen Abfolge verständlich darzulegen. Wer nicht richtig (stringent) denken kann, wird auch nie gut schreiben können, Orthografiekurs-Besuche hin oder her. Bereits dieses Wiedergeben von Fakten und Gedanken ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, das den Schreiber bei komplexen Themen vollständig in Beschlag nimmt – und sogar in seinen Bann zieht. Der Schreibprozess führt deshalb auch immer zu neuen, unerwarteten Erkenntnissen, besonders wenn auch noch Gefühle, die als Sprungbretter im Hindernislauf des Denkens gelten, belebend wirken. Es bleibt bei diesem faszinierenden Vorgang dann nur noch wenig Spielraum, um sich gleichzeitig im Dickicht orthografischer Regeln zu orientieren.

Wenn ich zum Beispiel von einer Wanderung stromabwärts berichte, mich noch an die dort vorhandenen Pflanzen erinnern möchte und diese im Zusammenhang mit der Vogel- und Insektenwelt schildern will und gleichzeitig unsicher bin, ob es Strom abwärts oder stromabwärts heisst, muss ich mich auch noch an diese Regel erinnern: Mehrteilige Adverbien, Konjunktionen, Präpositionen und Pronomen schreibt man zusammen, wenn die Wortart, die Wortform oder die Bedeutung der einzelnen Bestandteile nicht mehr deutlich erkennbar ist.“ So muss ich mich also aus der Landschaft mit all ihren Einzelheiten, die ich vor dem geistigen Auge habe, losreissen und wegen eines einzelnen Wortes in den orthografischen Urwald hinüberwechseln. Und dabei besteht dann die Gefahr durchaus, dass ich den Faden verliere. Am besten schreibt man drauflos und korrigiert das Hingeworfene in einem 2. Durchgang hinsichtlich Grammatik und Stil.

Durch die reformierten Reformen ist die Sprache etwas gummiartiger, formbarer geworden. Wer das Gefühl für eine mehr oder weniger fein modulierte Ausdrucksweise entwickelt hat – etwa bei häufigem Lesen –, kann sich innerhalb der neuen Regeln, die ohnehin keine Gesetzeskraft haben, hier besser entfalten.

So ist also aus dem ehemaligen reformerischen Schmarren, der in einen modulationsfähigen Brei umgewandelt worden ist, doch noch ein Mehrzweckwerkzeug entstanden, mit dem sich einigermassen gut leben und schreiben lässt.

Quelle
http://www.ids-mannheim.de/reform/regeln2006.pdf

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Die Gratis-Gesellschaft blüht

Die Gratis-Gesellschaft blüht

Von Walter Hess

Als ich vor einigen Jahrzehnten erstmals Gratis-Kleiderbügel vor einem Kleidergeschäft sah, staunte ich. Bis dahin waren für mich Kleiderbügel Wertgegenstände gewesen, meistens schwungvoll aus Holz gefertigt und mit einer eingeschraubten Metallaufhängevorrichtung in der Form eines Fragezeichens. Manchmal waren sie mit Leder oder mit einer in Handarbeit hergestellten Strickerei überzogen. Die Gratisbügel hatten solche höheren Qualitäten nicht mehr, waren zu Wegwerfartikeln aus Kunststoff geworden, und so konnte deren Entsorgung den zufällig Vorüberziehenden überlassen werden.

Wenn Sie heute durch eine Stadt gehen, erhalten Sie vieles gratis, zum Beispiel Zeitungen oder sogar Handys bietet man Ihnen zum Nulltarif an. Bei den Gratis-Handys ist allerdings ein Pferdefuss dabei; sie binden einen an einen bestimmten Telefonanbieter, der dann die Tarife bestimmt und die Handykosten allmählich wieder hereinholt. Die Gratisprodukte sind die konsequente Weiterentwicklung der Geräte, die unter ihrem Wert abgegeben werden und bei denen man das dazu gehörige Verbrauchsmaterial dann zu einem übersetzten Preis kaufen muss:

  • Billige Staubsauger = teure Staubsaugersäcke (wir haben kürzlich einen Staubsauger erstanden, der ohne Säcke auskommt, sondern da kann einfach ein Behälter geleert werden).
  • Billige Drucker = teure Druckerpatronen.
  • Billige Kaffeemaschine = teure Kaffeepatronen.
  • In vielen Gegenständen und Geräten sind Mängel eingebaut, damit ein gewisser Umsatz garantiert ist. Glühlampen gibt es z. B. für unterschiedlich lange Lebensdauern. Warum produziert man überhaupt noch kurzlebige? Ein beliebter Verschleissartikel in ehemaligen Autos war früher der Auspuff, der rasend schnell durchrostete. Beim heutigen Konkurrenzdruck können sich die Autofirmen das wahrscheinlich nicht mehr leisten.

Kurzlebig sind zweifellos Tageszeitungen – sie sind für den Tag gemacht und das Musterbeispiel einer Wegwerfware. Und immer häufiger werden sie einem förmlich gratis nachgeworfen, eine Erscheinung, die Qualitätszeitungsmacher aus früheren Jahrzehnten als unmöglich betrachtet hatten. In manchen Ländern wie etwa in Dänemark werden sie bereits kostenlos zum Haus geliefert und in die Briefkästen gestopft, wenn sie die Hausbesitzer nicht mit Anti-Drucksachenklebern fernhalten.

Wie mit den eingangs erwähnten Kleiderbügeln hat das einerseits mit dem Qualitätszerfall zu tun – mit dem geistlosen Häppchenjournalismus, der vor allem aus vielen Bildern und wenig Textzeilen besteht und sich um die aufwendige Darstellung von Zusammenhängen auf Basis von Hintergründen herumdrückt. Anderseits geht es den Verlagen einfach darum, möglichst viele Leser (besser: Betrachter) zu sammeln, also Beachtung zu finden. Wenn man dann genügend Aufmerksamkeit gesammelt hat, wird das Leserpotenzial an die Werber verkauft. Man hat also eine Plattform zur Verbreitung von Werbung.

Das ist das übliche Quotendenken, das auch bei Radio- und Fernsehstationen Einzug gehalten hat: Gesendet wird nicht, was wesentlich ist, zur Weiterbildung oder Erkenntnisfindung beiträgt, sondern was Aufmerksamkeit erregt, und das ist etwas ganz anderes. Es sind die Belanglosigkeiten, Spiele, Klatsch, Sex and Crime, um es in der angemessenen Sprache auszudrücken. Selbst Kinder, welche im Dunstnebel erotisierender Freizügigkeiten aufwachsen und dadurch verwirrt und irregeleitet werden, werden zu Opfern von Medienrummeln und kriminalisiert, wenn sie sich verführen liessen, immer im Interesse der Quote, das heisst eines möglichst grossen Aufmerksamkeitsanteils. Die Anbieter sind unter sich in Konkurrenz und wetteifern um das tiefste Niveau, weil die zunehmend verdummten Menschen dort unten zuhauf abgeholt werden können, und viele Medien schrecken vor keiner Geschmacklosigkeit zurück.

Die verfeinerte Geld-Religion
Bemerkenswerterweise vermitteln diese Vorgänge das Gefühl, sie verliefen weit abseits der üblichen Geldwirtschaft. Doch ist das Gegenteil der Fall, wie man bei genauerem Hinsehen erkennt. Der banale Brauch vom Anbieter, der etwas mit Gewinn an einen Kunden (weiter-)verkauft, segnet in dieser direkten und auch ehrlichen Form in manchen Bereichen allmählich das Zeitliche. Das ökonomische System ist und bleibt dennoch die wohl am weitesten verbreitete Religion; die Anhängerschaft ist beinahe flächendeckend, und das Banknoten- und Münzen-Esperanto ist eine überall verstandene Sprache.

Doch wie bei den Kleiderbügeln zerfällt allerdings auch die Qualität des Gelds. Es besteht nicht mehr aus einem dauerhaften, kunstvoll geprägten Metallstück, und die Banknoten sind nicht mehr durch Edelmetallvorräte wie Gold als Inbegriff für eine Wertvorstellung gedeckt, sondern haben ihren Wert nur noch deshalb, weil alle daran glauben und so tun, als ob darin tatsächlich ein Wert verborgen sei. Nur so kann das System funktionieren. Kürzlich habe ich gelesen, dass die sympathischen Nordkoreaner Dollarnoten in grossem Stil gefälscht hätten, und zwar machten sie ihre Fälscherarbeit so gut, dass die „Blüten“ bestenfalls daran zu erkennen sind, dass sie eine bessere Druckqualität aufweisen als die Originale. Was tuts? Vielleicht ist jede Banknote eine Fälschung, indem sie etwas vorspiegelt, was sie im Grunde nicht halten kann.

Der bargeldlose Zahlungsverkehr ist die logische Konsequenz davon. Man schiebt noch abstrakte Zahlen virtuell herum. Und wenn ein Minuszeichen davor ist, berührt das nicht mehr so sehr.

Die Märkte werden zunehmend zu Netzwerken, die manches zugänglich und nutzbar machen, vor allem geistiges Eigentum, das an Bedeutung jene des materiellen Besitzes langsam, aber sicher überrundet. Es geht zudem um Kunden-Anbindungen möglichst langfristiger Natur, was dann auch den einvernehmenden Ansturm auf die Kinder als Konsumenten verständlich werden lässt. Hier scheint der „Lifetime value“ am grössten zu sein – das Mass für den Wert, der aus einem Menschen herausgesaugt werden kann, wenn jeder Augenblick seines Daseins gnadenlos vermarktet wird. Kinder sollen möglichst früh als potenzielle Dauerkunden angebunden werden. Jeder Mensch wird so zum kommerziell ausbeutbaren Faktor; es geht um Zeit und Lebensdauer, und dahinter sind die finanziellen Interessen versteckt.

Der Kulturbetrieb ist diesbezüglich am weitesten gediehen – hier geht es um Veranstaltungen (inkl. Sportanlässe), Partys, Glücksspiele, Wellness, Film, Musikdarbietungen und elektronisch vermittelte Unterhaltung aller Art usw. Die Menschen zappeln innerhalb der Kommunikationsnetze, die sie verführen. Sie erhalten das Gefühl, an sündhaft teuren Veranstaltungen teilnehmen zu müssen, um dazugehören und mitreden zu können. Schon bei der telefonischen Billett-Bestellung müssen sie einen überhöhten Minutentarif bezahlen. Man hält sie am Apparat über Gebühr und wegen der Gebühr lange hin und zockt sie schon in dieser Vorphase nach Strich und Faden ab. Die Verblendung ist so gross, dass ihnen gar nicht auffällt, wie sie ausgenommen werden. Und bei Massenveranstaltungen wird dies durch gruppendynamische Abläufe noch verstärkt. Das ekstatische Begeisterungs-Kreischen der Dauerpubertierenden ist ein Bestandteil davon.

Auch das Fernsehen gehört zu den Massenveranstaltungen, auch wenn die Sendungen dezentral konsumiert werden. Die Privatfernsehsender bieten ihren Quatsch gratis an und leben von der Werbung. Man weiss dies, und meiner Ansicht nach kann dieser Tatbestand noch einigermassen mit dem Attribut „ehrlich“ versehen werden. Nicht zu entschuldigen aber ist das Verhalten der öffentlich-rechtlichen Gebührensender, die ihr Niveau im gleichen Sinn und Geist tiefhalten, die Werbung trickreich (auch in Form der Produkte-Platzierung in Sendungen) ständig penetranter machen und sich dafür sogar via Zwangsgebühren noch bezahlen lassen. Den meisten Menschen, die sich das kritische Denken und das Denken überhaupt austreiben liessen, fällt das nicht mehr auf.

Das Beispiel zeigt, dass es möglich ist, entsprechend programmierte und desinformierte Menschen in jede denkbare Falle tappen zu lassen. Im Jahr 2000 erschienenen Buch „Access. Das Verschwinden des Eigentums“ von Jeremy Rifkin, der sich mit solchen Themen befasst, wird darauf hingewiesen, dass es um Zugang (Access), um Eintrittskarten zu bestimmten Kreisen und Angeboten geht, wozu Computer und Internet als Hilfsmittel dienen.

Aufwand für nichts
Wie ich im Blog über das zweijährige Bestehen des Blogateliers am 24.12.2006 geschrieben habe, hat uns ein Nutzer aus Wien angesichts unseres Gratisangebots von Kommentaren, Wissen und Feuilletons, die einer Qualitätszeitung im herkömmlichen Sinne gut anstehen würden, gefragt: „Warum publiziert Ihr dann?“ Der Wiener Geschäftsmann kann nicht verstehen, dass man so viel Aufwand für nichts treiben kann (und sich dies noch etwas kosten lässt). Doch das Internet lebt zu einem guten Teil davon. Es gibt uns viel, und wir geben noch mehr zurück.

Tatsächlich publizieren wir, abgesehen von der Werbung für eigene Bücher, ohne kommerzielle Absichten. Aber warum denn eigentlich? Die freie Meinungsäusserung in vollkommener Unabhängigkeit, verantwortungsbewusst wahrgenommen, ist ein unbezahlbarer Wert und eine kleine Chance, den Lauf der Dinge beeinflussen zu können. Es ist nötig, dass wir der Gesellschaft und uns selber gelegentlich den Spiegel vorhalten und an das denken, was wir brauchen, verbrauchen, niedertrampeln und daraus lernen. Ein Einsatz für die Biosphäre, in der wir leben, ist zwingend. Das Wort Umwelt mag ich nicht so recht, weil es etwas um uns herum bezeichnet, das uns umschliesst, aber nicht einschliesst.

Möglichst viele Menschen müssen versuchen, der Verdummung entgegenzutreten, und das zu publizieren, was andere aus kommerziellen Gründen verschweigen oder nicht zu sagen wagen. Die Textatelier-Schreiberinnen und -Schreiber tun das, und sie werden im Internet immer deutlicher wahrgenommen. Die Zugriffszahlen sind das, was für uns Erfolg bedeutet: Erstmals über 2 Millionen Seitenaufrufe im Jahr 2006, gegenüber dem Vorjahr mehr als eine Verdoppelung. Und die ganze Bedeutung dieser Zahl liesse sich wahrscheinlich nur an der Qualität unserer Nutzer ermessen; wie wir aus den zahllosen Reaktionen wissen, sprechen wir eine kritische geistige Elite an.

Der unvermeidliche Erfolg
Ein solcher Erfolg war bei all unseren Bemühungen nie unser Ziel. Wir wollen bloss in einer ehrlichen und offenen Art Informationen und Gedanken verbreiten, an die Konsumenten der Mainstreammedien innerhalb der Kultur des Irreführens und Totschweigens kaum herankommen können, und unsere Lebenserfahrungen weitergeben. Ein neben dem wachsenden Beachtungsgrad besonders erfreuliches Ergebnis hat sich beiläufig eingestellt, und wir wissen es umso mehr zu schätzen:

Am 2. Januar 2007 hat uns ein in Fachkreisen bekannter Unternehmer, der in Handarbeit in seinem Unternehmen höchstwertige Akustik-Produkte herstellt und solche auch vertreibt, Martin Dürrenmatt, Direktor der Precide SA, CH 6834 Morbio TI, angefragt, ob auf unserer Textatelier-Webseite eine Bannerwerbung möglich sei, obschon wir von uns aus auch noch nie Werbeflächen angeboten haben. Wir haben das intern besprochen und dem Unternehmen eine kleine Werbefläche am rechten Rand der Einstiegsseite www.textatelier.com versuchsweise zur Verfügung gestellt. Die Precide SA und wir wollen damit vorerst einmal Erfahrungen sammeln und austauschen. Für die beworbenen Produkte (höchstwertige Lautsprecher und Kopfhörer, siehe dazu www.textatelier.com/index.php?id=60&typ=60&navgrp=5&link=258) legen wir die Hand ins Feuer.

Ich habe diese Anfrage aus einer qualitätsbewussten, angesehenen Firma als schönes Kompliment und Anerkennung für unsere gemeinsam geleistete Arbeit gewertet. Die Aufnahme des Werbebanners wird uns selbstverständlich in keiner Weise einschränken. Unser Ziel bleibt: Die Nutzer, die uns Vertrauen schenken, nie zu enttäuschen. Andersgerichtete Bestrebungen sind und bleiben uns fremd.

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Gegen Erfolg stemmen wir uns nicht. Er ist allerdings nicht das Ziel, sondern die offenbar unvermeidliche Folge unserer konstanten Arbeit. Und darin liegt ein grundlegender Unterschied zu den üblichen Erfolgsstrategien, die positive Resultate mit allen Mitteln anstreben und dabei deren Urheber bereit sind, ihr Ansehen und ihren guten Ruf zu untergraben.

Zahlen sind flüchtig, das virtuelle Geld ist ein unsicherer Wert. Was von bleibender Bedeutung ist, ist das, was sich ausserhalb der Bilanzen abspielt: in unseren Köpfen.

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