Textatelier
Gibt es sie noch, die Buch-Leser?

Das Textatelier ist auch ein Buchatelier

Schreiber wären überflüssig, wenn es keine Leser gäbe. Infolgedessen sind im Rahmen der Schreibkultur die Leser eindeutig das zentrale Ereignis. Denn das Schreiben hat mit dem Lesen zu tun. Wie die Pisa-Studien lehren, ist das allerdings eine allmählich aussterbende Fähigkeit. Anderseits zeigen Bestseller auf dem Buchmarkt wie die „Harry Potter“-Serie von J. K. Rowling , dass doch noch gelesen wird, wenn das Geschriebene durch Marketingtricks hinreichend bekannt gemacht wird und es die aktuellen Leserbedürfnisse trifft. Aber vielleicht möchte man das Buch einfach haben, um es als Dekorationsgegenstand ins Gestell neben die Elektronikgeräte zu stellen. Die Verbreitung (Auflage) sagt nichts über den Wert eines Buchs aus.

Jedenfalls braucht der Publizist ein Publikum, das allerdings nicht um ihn herum steht, nicht die nach oben ausgestreckten Arme telegen beugt, streckt und dann die Hände ganz oben zum Applaus aufeinander knallen lässt. Das Lesevergnügen spielt sich vielmehr im trauten Bereich ab. Es ist eine Tätigkeit, die sich im Gegensatz zu Live-Aufführungen in Hallen und Sportstadien dezentralisiert abspielt und die nicht den Gesetzen der Massenpsychologie gehorcht. Da triumphiert die Individualität.

Die modernen Leserbedürfnisse werden meistens durch die Medien (Fernsehen, Radio, Presse) gesteuert. Menschen, die durch die Massenmedien aus Quotengründen zu Stars emporstilisiert worden sind, schreiben Bücher oder lassen sie schreiben. Der bekannte Name auf dem Buchumschlag bürgt zwar nicht für literarische Qualität, aber für Absatz, und das ist das Wesentliche daran. Was tut schon der Inhalt zur Sache? Wenn er Diskussionen und im Idealfall noch gerichtliche Verfügungen auslöst, ist das auch gut und zusätzlich verkaufsfördernd. Wesentlich ist der Kult, der rund um ein Werk inszeniert wird – wie etwa die strikte Pflicht zur Geheimhaltung des Inhalts bis zum Potter-Vernissagetag (bei Strafandrohung), die Überführung der Druckunterlagen per Polizeischutz an die Druckerei und die Auslieferung um Mitternacht. Solches passt zur Thematik aus dem Märchenhaft-Kriminellen.

Bestseller werden inszeniert. So habe ich in meinem Bekanntenkreis vor dem Erscheinen des 6. Harry-Potter-Bands keinerlei Bedürfnis nach Schilderungen des Wiedererstarkens von Lord Voldemort und seiner Todesser geortet, und auch das Verlangen nach spannend beschriebenen Zwischenfällen, die auf die Welt der Muggel übergreifen, schien sich nach meinen persönlichen Feststellungen eher in Grenzen zu halten. Aber das Rätselhafte rund ums Verschwinden von Menschen oder Tötungen und Unglücke sind offenbar genau das, wonach sich die (auch) Jungen sehnen, besonders wenn sie gut beschrieben sind. Und das banale Gut-und-Böse-Strickmuster zieht. Es hat auch die Weltpolitik erfasst, die auf banalen Machtansprüchen über Menschen und Rohstoffe beruht. Kriege und Unheil scheinen ihre Faszination nicht verloren zu haben, obschon jede normale Tageszeitung selbst ausgeprägte Bedürfnisse in dieser Richtung zu stillen vermag, wenn auch kaum in genügender literarischer Qualität.

Die Schriftstellerin Lislott Pfaff hat mir Ende September 2005 das Folgende geschrieben: Übrigens lese ich momentan den 1. Potter-Band in der Originalsprache. Ich finde die Schreibe von Joanne K. Rowling deshalb so gut, weil sie einen witzigen Stil hat und z. B. das Leben in einem englischen Vorort mit den sauberen Vorgärten und den bünzligen Bewohnern so herrlich darstellt. Aber das ist sicher nicht der Grund für ihren Erfolg – oder höchstens ein nebensächlicher. Denn ich glaube, dass die jungen Leser − neben dem Zauber-Klimbim − vor allem fasziniert sind vom Wandel eines armen, ausgegrenzten Buben zu einem erfolgreichen Zauberlehrling und schliesslich zu einem berühmten Star, auch wenn das mit Hilfe von Zaubereien geschieht. Die Potter-Bücher haben also sehr wohl eine soziale Komponente, die man nicht unterschätzen darf. Ich glaube, das war der Grund für den ganz grossen Coup der Rowling. Ich mag ihr das auch gönnen.“

Wenn das, was offenbar gut gemacht ist – ich gebe auf Lislott Pfaffs Urteil viel –, gerade auch noch einer breiten Förderung des Lesens dient, dann ist dies ein begrüssenswerter Effekt. Dieses Lesen erschliesst den Menschen neue Welten in einer Gründlichkeit und Intensität, wie das sonst kaum möglich ist, höchstens durch dokumentarische Natursendungen im Fernsehen oder Kino. Hermann Hesse bezog sich auf den Rest und sagte es so: „Von den vielen Welten, die der Mensch nicht von der Natur geschenkt bekam, sondern sich aus eigenem Geist erschaffen hat, ist die Welt der Bücher die grösste.“ Es sind also Geisteswelten, die gleichermassen der Unterhaltung wie der intellektuellen Fortentwicklung dienen.

Globalisierungsfolgen im Keimlingsstadium
Die Auswahl an Büchern ist riesig, und was davon zu Bestsellern wird, sagt mehr übers Publikum als über die Autoren aus. Es gibt Themen, die konsumreif und reif für grosse Diskussionen sind, und solche, die erst das Keimlingsstadium erreicht haben. Die Aspekte rund um die Globalisierung, Regionalisierung („Glokalisierung“) und der davon betroffene Lebens- inkl. Ernährungsstil, Arbeitslosigkeit und politische sowie soziale Unzufriedenheiten und Unruhen gehören zu den Keimen, die immer deutlicher wahrzunehmen sind. Doch sind sie noch kaum ins öffentliche Denken eingedrungen. Und es wurde von den breiten Massen noch kaum erfasst, was alles zu den Folgen der verhängnisvollen neoliberalen Globalisierung gehört, obschon es nahe liegt:

  • Fusionen in der Wirtschaft, die zu Betriebsschliessungen (inklusive zum Lädelisterben) führen;
  • Masslose Rationalisierungen, die Arbeitsplätze über jedes vernünftige Mass hinaus vernichten;
  • Jugendunruhen – die an den Rand gedrängten Kinder ohne Aussicht auf Arbeit und Einkommen müssen randalieren, um überhaupt wahrgenommen zu werden, nicht allein in den Vororten von Paris;
  • Vorzeitig ausrangierte ältere Menschen stranden in den Arztpraxen und in der Psychiatrie, weil sie zum Randalieren nicht mehr so gut geeignet sind;
  • Vernichtung von kleinbäuerlichen Strukturen in der Landwirtschaft (Bauernsterben) und – damit verbunden – die
  • Ausräumung von Landschaften und die Zerstörung der ökologischen Vielfalt;
  • Förderung der abenteuerlichen, naturschädigenden Genmanipulationen (Verschandelung des gewachsenen genetischen Potenzials). Und bei Genmanipulationen im Labor können neue Viren entstehen.
  • Zerfall der Produktequalitäten ausserhalb der reinen Technikerzeugnisse, auch bei Nahrungsmitteln;
  • Folgenschwere Chemisierung aller Lebensbereiche (Agrochemie und Medikamente); die artfremden, naturfernen Massentierhaltungen bedingen einen ständigen Einsatz von Medikamenten, vor allem Antibiotika, und begünstigen Seuchen.
  • Erosion der körperlichen Widerstandskräfte, Krankheitsanfälligkeit und ständiger Anstieg der Krankheitskosten;
  • Die Vereinheitlichungen führen zur Dezentralisierung und erzeugen immer mehr Verkehr, auch Kommunikationsbedürfnisse mit den entsprechenden Umweltauswirkungen (Energieverbrauch, Abgase, Elektrosmog);
  • Die sozialen Auswirkungen und Ungleichgewichte erzeugen Unbehagen, Unruhen bis hin zum Terrorismus, und dies wiederum führt zu einem
  • Ausbau der polizeilichen und staatlichen Überwachungsmassnahmen und damit zur Einschränkung der Freiheitsrechte der Menschen.
  • Fusionen auf Länderebene (Stichwort: EU) sind mit einem Abbau demokratischer Einflussnahmen durch das Volk verbunden (Demokratieabbau) = Hinwendung zu zentralistisch geführten Überstaaten.
  • Die Privatisierung der öffentlichen Dienste (Wasser, Verkehrsbetriebe, Schulen, Krankheitswesen, Kommunikationsanlagen usf.) führen ebenfalls zu Verlusten an demokratischen Einflussnahme-Möglichkeiten.
  • Der Bildungszerfall lässt das Volk zur verblödeten Manipuliermasse werden.
  • Die Trennung von Information und Werbung in Verbindung mit bewussten Desinformationsstrategien und dem Bildungszerfall führen zu einer Orientierungslosigkeit.
  • In der Wirtschaftskonzentration ist die Medienkonzentration inbegriffen. Die Medien sind fest ins Globalisierungsgeschehen eingebunden und können sich keine kritische Information leisten, welche diese Vorgänge hinterfragt.

Selbstverständlich ist das nur eine rudimentäre, unvollständige Zusammenstellung, die eine Differenzierung verdienen würde; ich habe das in meinem Buch „Kontrapunkte zur Einheitswelt“ getan. Doch selbst 240 Buchseiten reichen nicht aus, um die Zusammenhänge und die Folgen rund um den Trend zur Einheitswelt hinreichend aufzuzeigen.

Solche Themen, denen unser Verlagsprogramm gilt, sind zurzeit noch von einer gewaltigen Spasskultur überlagert und eingenebelt, die neben den vorherrschenden Gewinnabsichten auch die Aufgabe wahrnimmt, die breiten Massen bei (Kauf-)Laune zu halten und vom Wahrnehmen der desolaten, unhaltbaren Zustände im globalen Dorf abzuhalten.

Aufrüttelnde Bücher
Die 3 bisher vorliegenden Verlagsobjekte aus unserem Textatelier.com-Verlag sind geeignete Mittel, um Breschen in die Phalanx der Ignoranten zu schlagen. Im Buch „Bözberg West“ von Heiner Keller, dessen Erscheinen am Morgen des 1. Oktobers 2005 bei der Linner Linde gefeiert worden ist, werden die heutigen, zur Einebnung beitragenden Vorgänge am Beispiel einer noch weitgehend ländlichen Landschaft zwischen den Grossstädten Basel und Zürich beschrieben. Und das Buch „Richtig gut einkaufen“ von Heinz Scholz, dessen Erscheinen am 4. November 2005 in einem Grünkernladen in Schopfheim D Anlass eines besinnlichen Feier-Abends war, zeigt die Vorzüge der Lebensmittelproduktion in der Nähe auf: Überblickbarkeit, persönliche Bezüge zum Herkunftsort und zu den Produzenten und die damit verbundenen Chancen zu Kontrolle und Einflussnahme durch den Verbraucher. Das Werk wirbt für eine Abkehr von den globalisierten, industrialisierten Nahrungsmitteln, die kaum noch Lebensmittel sind.

Rita Lorenzetti, die schon zahlreiche tiefsinnige Feuilletons und Blogs fürs Textatelier.com geschrieben hat, stellte fest, dass die beiden ersten Vernissagen unter starken, breitkronigen Bäumen stattfinden (die „Kontrapunkte“-Feier war am 29. April 2005 unter der riesigen Platane im Bibersteiner Schlosshof). Die Kraft, welche die imposanten Bäume auf uns Menschen übertragen, können wir auch bei unserem verlegerischen Schaffen brauchen. Sie haben Funktionen des Schutzes (wie die Hausbäume) und der Geselligkeit, insbesondere die Linde.

Wir wollen tatsächlich bestehende Werte bewahren, schützen und einen Beitrag dazu leisten, dass aus der Vermassung eine neue Form von einer individuellen Geselligkeit wird, in welcher der verantwortungsbewusste Individualismus aufblühen kann – ohne Einbindung in eine bestimmende Gemeinschaft, welche die Entfaltung behindert. Jedermann soll seine sozialen Netze nach den eigenen Bedürfnissen knüpfen können.

Unsere darauf fussenden bisherigen Verlagserfolge haben die Erwartungen übertroffen: Mein Anti-Globalisierungsbuch findet auch in Deutschland einen sehr guten Absatz, das Bözberg-Buch ausserhalb der mit der Region verbundenen Menschen auch bei Planern und ökologisch interessierten Menschen, der Einkaufsführer in Reformhäusern und Bioläden und bei Gesundheitsinstitutionen.

Das sind Zeichen dafür, dass die Globalisierungs-Diskussion allmählich aus dem Tiefschlaf erwacht und die betroffenen, beengten Menschen hellhörig werden. Aus den Keimen werden zweifellos bald einmal stattliche Bäume. Das langsame, gesunde Wachstum ist im Textatelier unverkennbar.

Walter Hess


Wie lang hat ein Satz zu sein?

Lange und kurze Sätze

Lange Sätze sind verpönt. Bei Würsten ist es genau umgekehrt.

Wahrscheinlich waren zu Beginn des Entstehungsprozesses unserer Sprache alle Sätze kurz. Im Urindogermanischen waren keine Relativa und Konjunktionen (Bindewörter wie weil, da) bekannt. (Relativpromomen sind Satzglieder in Nebensätzen und vertreten dort ein im Hauptsatz genanntes oder zu ergänzendes Substantiv oder Pronomen: Das heisse Wetter, welches diesen Sonntag prägte, machte mich müde.)

Sagen wir es mit Hilfe eines Relativpronomens: Kurze Sätze, die sitzen, können prägnant, aber auch Ausdruck einer lapidaren Sprache sein. Solch eine einfache Sprache ist das Ägyptische. Demgegenüber sind das Griechische und Lateinische Ausdruck von reich gegliederten Denkperioden, mit verschönernden Ranken versehen. Hier ein möglichst werkgetreu übersetzter Text aus der Periode des griechischen Historikers Thukydides (460/455 bis 400 v. u. Z.), wobei die Satzteile zur Verbesserung des Verständnisses in Zeilen aufgeteilt sind:

... was Menschen hervorzubringen pflegen
die sich in einer derartigen Lage befinden
die sich nicht davor hüten,
dass es einem veraltet erscheinen könne
und was Menschen bei allen solchen Fällen Ähnliches sich zurufen
das sich bezieht auf Frauen, Kinder und vaterländische Götter
aber es sich für nützlich haltend in der gegenwärtigen Lage.

Man wünscht sich schon, dasselbe in einer etwas vereinfachten Form lesen zu können, ehrlich gesagt. Etwa so: Menschen handeln und rufen sich aus ihrer Lage heraus zu, was sie für nützlich halten und ohne Rücksicht drauf, als veraltet zu erscheinen.

Sätze sind eine sprachliche Sinneinheit. Sie können (laut dem „Duden“-Stilwörterbuch) einfach (im Sinne von kurz), verkürzt, erweitert, zusammengesetzt, mehrgliedrig, lang, elliptisch, abhängig oder selbstständig sein. Meines Erachtens ergibt sich die Satzart oder das Satzgefüge aus dem, was auszusagen und/oder mitzuteilen ist. Einfache Sachverhalte lassen sich leicht einfach darstellen, komplexe aber rufen nach angemessenen Satzkonstruktionen. Die Gleichung Kurzer Satz = gut, langer Satz = schlecht ist ein ähnlicher Schwachsinn wie die Forderung nach kurzen Texten ohne Rücksicht darauf, was und wie viel mitzuteilen ist. Moderne Zeitungen sind unter anderem auch deshalb so schlecht, weil gestalterische Vorgaben (Layout) und nicht die Beschaffenheit (Einfachheit oder Komplexität) einer Mitteilung die Länge bestimmen. Dabei ergeben sich doch Satz- und Textlänge aus dem zu vermittelnden Inhalt sozusagen automatisch. Ich höre mit dieser Betrachtung über die Satzlänge erst auf, wenn ich das Gefühl habe, es sei jetzt alles gesagt, was dazu im Rahmen eines Rundbrief-Beitrags zu sagen ist.

Ein Text besteht aus einer Folge von Sätzen. Die Sätze müssen in sich oder mindestens im Rahmen des Bericht-Umfelds klar, verständlich sein. Und die Satzfolge muss durch den Leim namens Bündigkeit zu einer Einheit verbunden sein. Information beziehungsweise Gedanke muss an Information und Gedanke geknüpft sein, genau wie jede Maschine Schmiermittel braucht, wenn sie rund laufen und sich nicht abnützen soll. An Ecken und Kanten bleibt man hängen; man wird aus der Bahn geworfen. Der Gedankenfluss ist gestört. Nach der medizinischen Auffassung der alten Chinesen sind Energieblockaden die Krankheitsursachen. Und sie hatten Recht. Eine Sprache ist ebenfalls krank, wenn der Mitteilungsfluss stockt. Bei der gesprochenen Sprache ist die Toleranzgrenze weiter. Doch wer schreibt, sollte sich genügend Zeit zum Nachdenken nehmen und Flüssiges von sich geben.

Ein Meister des bündigen Schreibens ist der 1926 in Ostpreussen (Lyck) geborene Siegried Lenz, dessen Werke mit den langen Sätzen man sich wie Butter einsaugen kann. Ein Monstersatzbeispiel aus seiner Erzählung „Der Beweis“ (in „Der Spielverderber. Erzählungen“, dtv 600):

„Ich wusste wirklich nicht, wozu er unten war und sein Schiff vermass, hin und her ging zwischen den blendenden Sonnenquadraten auf dem Boden des Frachtraums, ohne Eile, ohne Seufzen vor allem, an diesem harten Sommertag ohne Seufzen, denn über den Luks und über dem eisernen Deck zitterte die Luft, und das Licht machte einen ganz verrückt und durchschlug sogar die geschlossenen Lider.“

Da wird in einem einzigen Satz also einer aus der Beobachterperspektive beschrieben, der innerhalb des Schiffsrumpfs eine Aufgabe bei sengender Aussenhitze versieht, die ins Schiffsinnere drängt. Lenz hätte diesen verschachtelten Satz durchaus in Einzelsätze zerlegen können. Doch dann wäre die Gesamtheit des Geschehens im Schiff und der äusseren Einflüsse aufgelöst gewesen; die Unmittelbarkeit würde darunter leiden.

Die Menschen versuchen immer wieder, aufgrund äusserer Merkmale (wie den biometrischen Daten zur Personenüberwachung) das eigene Wesen und jenes anderer zu erkennen: Augenfarbe, Nasenlänge, Ohrenbeschaffenheit, Fingerrillen usf. Ein mindestens ebenso gutes Merkmal ist die Sprache des sprechenden oder schreibenden Menschen. Sie lässt auf die Vorgänge in der menschlichen Schaltzentrale schliessen. Das Wie und das Was der Wiedergabe von Denkleistungen lassen ausgezeichnete Rückschlüsse zu. Ein dummer Plauderi offenbart seinen Geisteszustand ebenso wie einer, der Originales und Originelles zu bieten und die Erfordernisse einer bestimmten Lage genau erkennen kann, wie dies im Thukydides-Zitat beschrieben ist.

Die Länge der Sätze spielt keine Rolle, nur gut und kunstvoll gefügt müssen sie sein. Und sie müssen das sprachlich einbetten, was auszusagen ist.

Walter Hess


Kann das Wort Blog ersetzt werden?

Das Wort Blog ist unersetzlich

Das Wort Blog ist die Kurzform von Weblog. Und dieses wiederum ist das zusammengesetzte Kürzel von World Wide Web (WWW), dem weltweiten Spinnennetz aus Informationen, die auf vielen verschiedenen Computern in Form von Hypertext- und Hypermedia-Links gespeichert sind, und dem aus der Seeschifffahrt bekannten Logbuch, in das alle wichtigen Beobachtungen und Ereignisse eingetragen werden. Ein Blog ist also schlicht und einfach ein Tagebuchblatt.

Auf Anregung der Schriftstellerin Lislott Pfaff aus Liestal haben wir uns im Blogatelier kürzlich überlegt, ob man das Wort Blog vielleicht verdeutschen sollte und könnte. Aus einem Blogger (Tagebuchschreiber) würde dann zum Beispiel ein Kolumnist oder ein Glossist.

Aber bei genauerem Hinsehen wollte auch diese Idee nicht so richtig aufgehen: Das Wort Kolumne kommt von Druckspalte (Kolonne) und bedeutet laut Duden: „Von stets demselben Journalisten verfasster, regelmässig an bestimmter Stelle einer Zeitung oder Zeitschrift veröffentlichter Meinungsbeitrag.“

Wir erfreuen uns mehrerer Schreiberinnen und Schreiber von Format und publizieren im Internet und nicht in einem Druckmedium. Die Übernahme des Worts Kolumne wäre leicht daneben, würde an die Zeitungen erinnern.

Glossist: Eine Glosse ist eine spöttische Randbemerkung zu einem aktuellen Ereignis. Nun bieten wir aber auch ganze persönlich gefärbte Reiseberichte (Wachau) oder wissenschaftliche Darstellungen (Glokalisierung) in Form von aktuellen Blogs an – und wie könnte man eine Beschreibung von Zuständen in Tierversuchslabors, etwa aus der exzellenten Feder einer Lislott Pfaff, die unter die Haut gehen und Literatur sind, als Glosse bezeichnen?

Mir gefällt der Begriff Blog: Ein neues Wort, kurz und einprägsam, geeignet für eine neue Institution. Mir kommt es nicht einmal sehr englisch vor. Logbücher sind auch im Deutschen bekannt. Das Weben auch. Den URL www.blogatelier.com haben wir übrigens in weiser Voraussicht weltweit fürs Textatelier (als Filiale) reserviert.

Dieses Wort Blog macht zurzeit eine ungeheure Karriere, was mir kürzlich auch der Autor Heinz Scholz bestätigt hat: „Blog wird international gebraucht, und jeder versteht inzwischen, worum es sich dabei handelt. Meiner Ansicht nach sollten wir nicht verzweifelt nach einer deutschen Bezeichnung suchen und die Bezeichnung Blog belassen.“ Und auch der Schriftsteller Emil Baschnonga hat sich mit diesem Begriff abgefunden.

Wir haben uns in der Blogosphäre frühzeitig etabliert, wenigstens sprachlich. Digitaltechnisch sind wir aber nicht in diese eingebunden, weil wir keine Standardanbindung an einen der speziellen Blog-Provider haben, sondern alles über den eigenen Server abwickeln und somit alles im Griff (unter eigener auch technologischer Kontrolle) haben, gerade auch die Reaktionen aus dem Nutzerkreis. Unsere Blogs sind ein Teil des normalen Internet-Angebots.

Wir sind für Reaktionen immer offen, bestimmen aber (in grosszügiger, toleranter Art) selber, was von unserer Institution weiterverbreitet wird – sonst könnte jedermann seinen Mist bei uns abladen –, und wir sind keine Sondermülldeponie, sondern wollen Delikatessen verbreiten. Deshalb gibts bei uns kein (offenes) Forum, und wir haben auch nicht im Sinn, ein solches einzurichten.

Diese klare Haltung hat sich bewährt. Wir haben eine enorme Resonanz (siehe Blog-Reaktionen), bis 170 648 Seitenzugriffe pro Monat (August 2005). Jede Reaktion auf ein bestimmtes Blog wird dem betreffenden Autor konsequent zur Kenntnis gebracht und im Zusammenhang publiziert, wenn immer ein Nutzerinteresse vorausgesetzt werden kann.

Unsere qualifizierte Nutzerschaft spiegelt sich in der Qualität der Zuschriften: Das Logbuch wird zu einer Quelle der Erbauung und der Inspirationen.

Walter Hess


Reaktionen zur Plagiatsgeschichte

Die Plagiatorin, die zur Quelle ging

Zum Artikel „Das Textatelier und sein geistiges Eigentum“ (oder: „Von der Ehre, bestohlen zu werden“ im Rundbrief 15 steuerte Heinz Scholz aus D-79650 Schopfheim einige treffende Zitate bei:

Die Plagiatorin wollte ja, ironisch gemeint, das Beste für ihre Homepage haben.

Dazu ein Zitat von Goethe:

„Willst du dir aber das Beste tun,
so bleib nicht auf dir selber ruhn,
sondern folg eines Meisters Sinn!
Mit ihm zu irren ist dir Gewinn.“

Oder ein Spruch von Leonardo da Vinci:
„Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wassertopf.“

„Die meisten Nachahmer lockt das Unnachahmliche“ (Ebner-Eschenbach, Aphorismen).

Diese Sprüche sollen im Textatelier.com für Beruhigung sorgen, auch wenn die Unruhe kaum allzu gross sein dürfte.

Der Fall zeigt auf, wie Rechtsverdreher versuchen, für ihre Mandanten bzw. Mandantinnen das Unrecht als normal hinzustellen und angebliche Gesetzeslücken herauszufinden.

Ich bin überzeugt, dass schon der eine oder andere Artikel aus dem Textatelier nachgedruckt oder Teile davon publiziert wurden (vielleicht sogar ohne Quellenangabe! Wundern würde mich das nicht).“

Heiner Keller aus CH-5079 Oberzeihen bei überbordender Grosszügigkeit: Es lohnt sich nicht, mit deutschen Juristinnen zu streiten – sie reden und schreiben schneller als wir denken können. Die Sache mit dem Internet ist ebenso gut wie der Stolz, dass Unfug nicht kopiert wird. Also freuen wir uns, dass die Sache gebraucht wird.“