Nach dem Sprachkater das Freistilringen
Wie hält es das Textatelier mit der Neuschreibung?
Wer dem Alkohol im Übermass zugesprochen hat, leidet am nächsten Tag an einem Kater, das heisst er ist in einer schlechten psychischen und körperlichen Verfassung. Und wenn einer Sprache von einer Expertenkommission mit politischer Unterstützung hirnrissige Veränderungen im Übermass und ein normativer Umgang aufgezwungen worden sind, löst das einen Sprachkater aus. Der deutschsprachige Raum ist davon seit 1999 befallen.
Innovationitis
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist die Welt von einer merkwürdigen, geradezu krankhaften Veränderungsmanie befallen gewesen. Das geschah unter dem Oberbegriff „Globalisierung“, der sich als solcher allerdings anfänglich noch diskret im Hintergrund hielt. Die neuen Computer-Technologien, die sozusagen alle Bereiche erfassten, und insbesondere das Internet wirkten als Schmiermittel. Das neue Medium hat die Informationen beschleunigt und aus dem Schraubstock redaktioneller Selektionen und Anpassungsbedürfnissen befreit, eine stolze Leistung. Der Rest stimmt weniger zuversichtlich.
Die Digitalisierung aller Lebensbereiche wäre eine unwahrscheinliche Chance gewesen, langweilige, abstumpfende Routinearbeiten wie Buchhaltungen und Massenproduktionsprozesse zuverlässiger und schneller durch Maschinen erledigen zu lassen. Das wurde zwar reichlich und bis zum Gehtnichtmehr ausgenützt, und ein Ende ist noch lange nicht abzusehen. Aber die dabei frei gewordenen enormen Kapazitäten wurden nicht für eine kulturelle Höherentwicklung genutzt, sondern im Gegenteil zum Anlass genommen, um auch noch das Bewährte und Erhaltenswerte zu zerschlagen und aus dem inszenierten Chaos heraus in meist unbeholfener Weise Neues aufzubauen. Das Alte galt per se als schlecht. Im so entstandenen Vakuum machte sich eine sinnlose kindische Innovationswut breit, begleitet von Philosophien des Loslassens, von Jugendkult, Missmanagement und Raffsucht (siehe „Gönnt doch den Managern die Millionen“). Die Scherbenhaufen wurden immer grösser.
Schrittmacher waren einmal mehr die USA, deren Trivialkultur von unkritischen Menschen weltweit kopflos kopiert wurde, auch in sprachlichen Belangen, wie die Überschwemmung mit Anglizismen beweist. Nur was von dort kam, hatte Gewicht und Ansehen. Inzwischen ist diese hohe Meinung in einem offensichtlichen Erosionsprozess begriffen, was zuversichtlich stimmt. George W. Bush hat nochmals 4 Jahre Zeit, um der Weltöffentlichkeit die Augen weiter zu öffnen.
Die Sprachveränderer
Die deutsche Sprache war nicht von der Zerschlagung von organisch Gewachsenen ausgenommen, wie sie in den 1980er-Jahren üblich wurde. Es hatte alles ziemlich harmlos und unbemerkt begonnen. Denn jede Sprache entwickelt sich, muss sich den Gegebenheiten der Zeit anpassen, ohne den Charakter einer kulturellen Erinnerung zu verlieren. Die Sprache beeinflusst das Denken und umgekehrt. Wörter verschwinden, neue kommen hinzu, ein immerwährender lebendiger Prozess. Das was schon seit je so.
Ich habe soeben die „Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt“, ein um 1644 entstandenes Barockwerk von Johann Michael Moscherosch studiert und konnte erst nach einigen Seiten einigermassen flüssig lesen. Eine Leseprobe: „Also auch dieses Weibsbilde soltu / deinem gespra e ch nach / an jhrem a e usserlichen Wesen / nicht mit deinem Verstand / sondern augenmaß allein angesehen haben …“. Es stört heute niemand, wenn aus Gesichte die Geschichte, aus Wahrhafftig wahrhaftig geworden und das ß, das urdeutsche Scharf-S, das leicht mit dem B verwechselt werden kann, verschwunden ist. Die Sprache ist ein Volkseigentum, und das Volk bestimmt über deren Veränderungen; der Duden hat das bisher jeweils nachvollzogen.
Man kann die Sprache aber nicht obrigkeitlich dekretieren, sondern bloss ihre Veränderungen verfolgen und nach wissenschaftlichen Kriterien registrieren und einigermassen lenken. Das könnte die Aufgabe der 1977 gegründeten Kommission für Rechtschreibfragen am Institut für deutsche Sprache (IdS), Mannheim, gewesen sein. Doch 1987 erteilten die Kultusministerkonferenz (KMK) und das deutsche Bundesinnenministerium (BMI) dem IdS den Auftrag, zusammen mit der Gesellschaft für deutsche Sprache ein neues Regelwerk zu entwerfen, das Verhängnis einleitend. In der Folge wurde viel Unsinn inszeniert. So kam es etwa zur verstümmelnden Getrenntschreibung, die oft sogar den Sinn entstellte: Wenn einer etwas „wohl überlegt“ oder „wohlüberlegt“ hat, sind das 2 unterschiedliche Bedeutungen: Der Erste hat wahrscheinlich bzw. aller Wahrscheinlichkeit nach überlegt, der andere hat es sich gut überlegt. Und man kann die zusammengeschriebene Form nicht einfach abschaffen, ohne der Sprache Schaden zuzufügen, ohne sie zu kastrieren.
Wer immer schrieb und alles unkritisch übernahm, hatte sich seit der Einführung der Neuschreibung am 1. August 1999 mit widersinnigen Regelungen herumzuquälen, bis dann „gnueg Heu dunne“ (schweizerdeutsche Redensart: genügend Heu drunten) war. „Der Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ folgten dem „FAZ“ -Beispiel kehrten und zur alten Rechtschreibung zurück, nachdem der inszenierte Werteverlust mit aller Deutlichkeit zutage getreten war. In der Schweiz haben die „Schweizer Monatshefte“ die Kehrtwende vollzogen, nachdem sie schon im November 2003 ein ganzes Themenheft dem „Fehlkonzept Rechtschreibreform“ gewidmet hatten.
Als ehemaliger Chefredaktor der Schweizer Zeitschrift „Natürlich“, die damals in einer Auflage von rund 90 000 Exemplaren erschien, machte ich den Nonsens selbstverständlich von Anfang an nicht mit, brauchte also auch nicht zurückzubuchstabieren. Ich wollte damit signalisieren, dass wir keine anpasserische, keine angepasste Zeitschrift sind, und unser kritisches Publikum wusste dieses Selbstbewusstsein zu schätzen. Diese klar ablehnende Haltung deckte sich mit dem eigenwilligen inhaltlichen Kurs. Der AZ-Verlag, der alle anderen hauseigenen Medien auf die Neuschreibung umstellte, akzeptierte diese Ausnahme freundlicherweise: Eine Kuriosität durfte sein. Die Korrektoren, welche die Neuschreibung ohnehin mit Kopfschütteln quittiert hatten, empfanden Spass daran und korrigierten „Natürlich“-Texte zurück, wenn sich unbemerkt eine Neuschreibung in einen Text eingeschlichen hatte.
Unmittelbar nach meiner Pensionierung Mitte 2002 aber wurde die günstige Gelegenheit zur Anpassung an den Mainstream benützt; die Neuschreibung wurde vielleicht auch einfach im Sinne einer Vereinfachung übernommen. Es steht mir nicht an, das zu kritisieren, ich stelle nur fest.
Die grosse Sprachverwirrung
Im deutschen Sprachgebiet sind nach der Rechtschreibereform eine heillose Verwirrung und Verunsicherung zurückgeblieben. Sie werden zusätzlich noch durch den erwähnten Vormarsch der Anglizismen und den damit verbundenen megageilen, coolen Jugendjargon vergrössert, welche der lädierten deutschen Sprache noch zusätzlichen Schaden zufügen. Sprachkonfusionen führen in der Wirtschaft zu enormen Unkosten. Auch andere Sprachen sind durch das Amerikanische geschädigt, z.B. die Weltsprache Spanisch, die zum Spanglisch verkommt, und die Sprachvielfalt überhaupt, die ebenfalls unter der Anpassungsbereitschaft an die dominanten Sprachen schwer leidet, ein Aspekt der kulturellen Nivellierung in den tiefsten Tiefen.
Die englischen Sprachfetzen wurden im deutschsprachigen Raum vor allem durch die Werbung eingeführt, welche junge Kunden anpeilte, obschon dort vielfach Schulden die dominante Grösse sind. Alle Ausverkäufe sind zu Sales geworden, die Verkaufsgeschäfte zu Shopping Centers, die Betriebsgesellschaft des Flughafens Kloten zur Unique, ein besonders „abverheiter“ Name, wie das treffende mundartliche Adjektiv lautet. Die Medienschaffenden, die ihre Englischkenntnisse ebenfalls unter Beweis stellen wollten und ohnehin die USA als ihr Vorbild gewählt hatten, wollten nicht zurückstehen: Die Printmedien, wie sie sich nun nannten, ebenso wie die TV und das Radio.
Die Praxis im Textatelier
Das Textatelier macht solchen Schabernack nicht mit, auch wenn wir uns mit unserem Internetauftritt an Interessenten in aller Welt wenden. Wir stehen zu unserer Herkunft und zu den schweizerischen Eigenarten. Das wird offensichtlich über die Landesgrenzen hinaus geschätzt, wie ein Blick ins Logbuch beweist: Nach den Schweizer Nutzern, welche die Mehrheit bilden, folgen Gäste aus den folgenden Ländern in dieser Reihenfolge: Deutschland, Österreich, Kanada, Russland, Ungarn, Belgien, Seychellen, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Italien, Thailand, Namibia, Singapur, Grossbritannien, Liechtenstein, Japan, Schweden, Slowakische Republik, Australien, Dänemark, Polen, Tschechien, Spanien, Finnland, Israel, Litauen, Rumänien, Türkei, USA Military und USA Educational usf. Wir haben trotz weltweiter Beachtung einen Rundbrief und keinen Newsletter, eine Inhaltsübersicht statt eine Sitemap nur um den etablierten Begriff Ghostwriter sind wir nicht herumgekommen. Die Internationalität des Publikums darf jedenfalls nicht zum Aufgeben von Eigenarten führen, die den Charakter eines Unternehmens prägen.
Wir sind, wie man sieht, selbstverständlich keine sturen Sprachreiniger, sondern nutzen die sprachliche Vielfalt. Wir entscheiden uns für die reichhaltige deutsche Sprache, wenn sie gleich- oder höherwertige Wörter wie eine Fremdsprache offeriert, was in der Regel der Fall ist, und wir lassen gelegentlich auch Helvetismen einfliessen (nur in der Schweiz = Helvetien übliche Ausdrucksweise, z. B. Nidel für Rahm, Rande für Rote Bete und Sackgeld für Taschengeld). Wir finden es ebenso faszinierend und bereichernd, wenn die Österreicher ihre Austriazismen und die Deutschen ihre Teutonismen pflegen. Und auch englische Ausdrücke werden dann angewandt, wenn sie besonders treffend sind und keine gleichwertigen Übersetzungen zur Verfügung stehen.
Selbstverständlich hat das Textatelier.com keine eigene Sprache. Aber die doch etwas eigenwillige Hausorthografie dieses Unternehmens, das sich der Produktion von anspruchsvollen Texten annimmt, beruht auf hauseigenen kritischen Überlegungen zur Rechtschreibung, die vollkommen auf den Kunden und die Nutzer ausgerichtet sind und somit nicht stur angewandt werden. Grundsätzlich schreiben wir nach Kundenwunsch in der herkömmlichen Ausdrucksweise, auf Neudeutsch, in einer moderaten Modernisierung oder so, wie es bisher war. Die über 2 1/2-jährige Erfahrung hat allerdings gelehrt, dass sich kaum ein Kunde um sprachliche Finessen kümmert, sondern von uns einfach erwartet, dass wir es schon richtig machen. Wir berücksichtigen dann die bisherige sprachliche Firmenkultur ebenso wie die Besonderheiten der Zielgruppe, an die sich das Schriftstück wendet, und über allem steht die Nutzerfreundlichkeit mit der Verständlichkeit als massgebendem Leitmotiv.
Im Textatelier haben wir aus der babylonischen Sprachverwirrung Nutzen gezogen: Wir behalten die klassischen Schreibweisen bei, wenn sie sinnvoll sind und der Verständlichkeit am Besten dienen. Wo die Neuschreibung aber Verbesserungen bietet (wie bei Potenzial statt Potential) oder die konsequentere Grossschreibung bei der Substantivierung (bei hauptwörtlichem Gebrauch) als sinnreicher erscheint, gerade in Zweifelsfällen, übernehmen wir diese. Die Kommasetzung hat der Verständlichkeit eines Satzes zu dienen und darf nicht dem Zufall überlassen werden. Eine falsche Kommasetzung zerstört den Sinn einer Aussage (siehe unten); zumindest daran hätten sich die offensichtlich unbedarften Reformer nicht vergreifen dürfen.
Heute gibt es Raum für eigene Interpretationen und Lösungen, zumindest ausserhalb der Schulen und der Amtsstuben, an die sich die neue, teilweise wieder zurückgenommene Neuschreibung richtet. Selbst der im Sommer 2004 auf den Markt gekommene neue „Duden“, in dem über 3000 Schreibweisen neu zugelassen sind, wendet diese Neuerungen nicht konsequent an… Zudem geht die Korrektur an der missglückten Sprachreform weiter, ein Rat für deutsche Rechtschreibung soll noch retten, was zu retten ist, eine Abwandlung des sportlichen Freistilringens.
„Zeige, wie du schreibst, und ich sage dir, wer du bist“ ist bei den heutigen Voraussetzungen eine durchaus zutreffende Erkenntnis. Eine anpasserische Zeitung oder Zeitschrift wird alle Neuregeln sofort umsetzen, Widerspenstige aber lassen sich nicht so leicht zähmen. Also kann man bereits aus der Sprachanwendung auf die Gesinnung und das Selbstbewusstsein schliessen. Das ist eines der Kriterien, welches das Auswählen von Zeitungen, Zeitschriften und Textern erleichtert.
Walter Hess
Lebensgefährliche Kommaregeln Bei der Neuschreibung ist vieles (vieles wird klein geschrieben) freier geworden, was einer präzisen Ausdrucksweise allerdings nicht förderlich ist; dies trifft gerade auch auf die Interpunktionsregeln zu. Die Kommaregeln sind weitgehend freigegeben worden (vor allem bei Infinitivsätzen Verb in der Grundform wie haben und Partizipsätzen = Mittelwort wie lachend, gelacht ). Dabei müsste das Komma mit Bedacht eingesetzt werden, sonst können Aussagen ins Gegenteil verkehrt werden. Das erfuhr vor einigen Jahren die deutsche Baumarktkette Praktiker, die mit der alltagssprachlichen Wendung „'Geht nicht gibt's nicht“ geworben hat und damit suggerieren wollte, dass hier alles möglich gemacht wird, dass in diesen Baumärkten eben die Devise „Nichts geht nicht“ gilt. Doch inzwischen waren weniger Sprachkundige in die Werbebranche hineingewachsen, die es besser machen wollten und etwas unbeholfen formulierten: „Geht nicht, gibt's nicht“. Sie machten also ungewollt aus der kundenfreundlichen Ankündigung eine abschreckende Aufzählung, die Folgendes besagt: In den Praktiker-Läden geht nichts, und dort gibt es auch nichts. Ähnliches geschah mit dem Gnadengesuch eines zum Tode Verurteilten, das ein russischer Zar zu behandeln hatte. Er gab seinem Sekretär einen Zettel, auf dem stand: „Begnadige nicht aufhängen!“ Er soll damit gemeint haben, „Begnadige nicht, aufhängen!“. Doch der menschenfreundliche Sekretär setzte das Komma an anderer Stelle: „Begnadige, nicht aufhängen!“ und der Verurteilte kam mit dem Leben davon. In dieser Geschichte bleibt unberücksichtigt, dass man in Russland russisch spricht. Wahrscheinlich ist sie einfach gut erfunden, um zu zeigen, dass Kommas lebenswichtig sein können. In einem Globi-Buch musste diese traditionelle Comicfigur einst x-mal an die Wandtafel schreiben: Globi, sagt der Lehrer, sei dumm. Globi versetzte die Kommas: |