Kurt Wiedemeier – Neuerer an einer Traditionsschule
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH
Die Kantonsschule Wettingen gehört zu den traditionsreichsten Lehrstätten des Kantons. Eine bedeutende Epoche repräsentierte die Zeit des Lehrerseminars, mit dem Kulturkämpfer Augustin Keller als erstem Direktor, später Franz Dula, der bis 1871 dem Luzerner Lehrerseminar Rathausen vorgestanden hatte. Im 20. Jahrhundert waren Arthur Frey und Paul Schäfer bedeutende Pädagogen an der Spitze des Lehrerseminars. Nach der Umwandlung in eine Kantonsschule gehörten Walter Allemann und Urs Strässle zu den Leitern einer Schule, die im Zeichen eines dynamischen Breitenwachstums stand.
Kurt Wiedemeier, der dieser Tage abtretende Rektor, verwirklichte während 11 Jahren, von 2005 bis Ende des Schuljahres 2015/16, dynamischen Wandel auf humanistischem Wurzelwerk. Im Kanton Luzern, wo der Theologe und Romanist aus dem Raum Baden einer der ersten ICT-Lehrer war, schätzte man den früheren Lehrer an Luzerns Kantonsschule und Rektor von Beromünster als wertkonservativen und manchmal unbequemen Neuerer: „Wenn ihr wollt, dass das Gute an der alten Schule erhalten bleibt, müsst ihr euch bewegen!“ war einer von Wiedemeiers Merksätzen. Dabei war er längst nicht der Mann, der die gängigen Lehrerzimmer-Themen abhakte. Vom Philosophen Sartre über den Theologen Küng bis zum Fussball konnte er sich ereifern, aber wenn schon, mit Hintergründen. Dass man indes in Wettingen auf den Rektor Wiedemeier gewartet hätte, darüber machte er sich bei seinem Amtsantritt keine Illusionen.
Als der vielseitige Lehrer im Sommer 2005 die ehemalige Abtwohnung als seine Wirkungsstätte bezog, schlug ihm von einem Teil der Lehrerschaft ein eisiger Wind um die Ohren. Die Ablehnung galt kaum ihm persönlich, sondern betraf einen Traditionsbruch. Schliesslich waren Wettingens Äbte zur Feudalzeit jeweils von ihren Mönchen gewählt worden, woran eine alte Wahlurne im Rektorat noch erinnert. Nun aber trat im Kanton Aargau das nicht allseits willkommene GAL in Kraft, das neue Gesetz über die Anstellung von Lehrpersonen.
Das Prinzip der „geleiteten Schule“ 
   Stärker als je galt auf allen Stufen das Prinzip der „geleiteten Schule“. Vollzeitpensen  als Regelfall und idyllische Überschaubarkeit gehörten der  Vergangenheit an. Wiedemeiers Vorgänger waren noch aus dem Lehrerkollegium  hervorgegangen, einer Gemeinschaft von Lehrenden, die jeweils ihren  Vertrauensmann zum Rektor vorschlugen. Nun aber setzte in fast allen Kantonen  der neue Wind einer Qualitätsbürokratie die Lehrerschaft unter Druck. Steigende  Sitzungsfrequenz und Pflicht zu mehr Statistik waren die Folge. 
   Dabei  anerkennt das GAL die in der  aargauischen Kantonsverfassung festgeschriebene Lehrfreiheit, was Lehrpersonen  zu einer wünschbaren Eigeninitiative ermuntert. Der Rektor muss in diesem Sinn  ein Ermöglicher sein. Laut Wiedemeier müssen sich die aargauischen höheren Schulen im  interkantonalen Vergleich nicht verstecken. Das Angebot ist überdurchschnittlich  reichhaltig. Zum Beispiel ist das Fach Philosophie seiner ursprünglichen  Stiefkindstellung längst entronnen. Ein Wettinger Schüler nahm mit Erfolg an der  Philosophie-Olympiade in Kopenhagen teil. Eine  schweizweit einmalige Dichte von Medaillen und Auszeichnungen auf nationaler  wie internationaler Ebene dokumentiert eindrücklich die neu erstarkten Naturwissenschaften an der Schule. 
Freiheit bedingt Überblick 
   Freiheit der Lehrenden und Lernenden ist als Spielraum nur möglich, wo Überblick herrscht.  Für Rektor Wiedemeier  erhielt in Wettingen beim Übergang von MAV (alte Maturitätsordnung) zur  heute herrschenden MAR ein breites Freifachangebot eine hohe Priorität; generell die  Begabungsförderung und die Aufrüstung von Fächern wie Philosophie und vor allem  Biologie, was der Staatsphilosoph Ignaz Paul Vital Troxler in Aarau schon bei  den Beratungen zum Schulgesetz von 1835 gefordert hatte. Was Troxler  Menschenbildung nannte, bezeichnet Wiedemeier nach Hartmut von Hennig „den Menschen stärken“. 
   Eine der heute grossen Mittelschulen des Kantons war  einst Lehrerseminar. 1835, als in Wettingen die Melodie unserer Nationalhymne  erstmals ertönte, gab es eine Klosterschule mit viel Sinn für Musik und Latein.  Klassischer Humanismus ist 2016 in Wettingen nicht gestorben: 18 Schüler belegen das „Akzentfach“ Latein, womit die  Gesamtzahl der Humanisten im Vergleich zu früher durchaus  gehalten wird. 
660 Schülerinnen und Schüler mit Musikinstrument 
   Auf die 18 Geigerinnen, die das Instrument neu lernen, ist Wiedemeier  erst recht stolz. Dabei präsentiert Wettingen heute ganz andere Dimensionen:  660 Schülerinnen und Schüler spielen ein Musikinstrument. Wohl  Schweizerrekord. Auch im Sport will man sich nicht verstecken: Glänzt Kanti Baden  beim Volleyball, wurde Kanti Wettingen Schweizermeister in einem  Mannschaftswettbewerb im Rudern. Wiedemeier selber spielte zu Zeiten, da der FC  Wettingen noch die damalige Fussballnationalliga zierte, im Mittelfeld und gehörte zum erweiterten Kader der ersten  Mannschaft. 
   Dem Arbeiterkind Kurt Wiedemeier wurde seine Karriere als Akademiker  und Rektor bedeutender Schulen nicht an der Wiege gesungen. Geboren im alten  Spital Baden, verbrachte der Ortsbürger von Würenlos seine Schulzeit bis zur Matura in  der Bäderstadt. An der  Bezirksschule, errang er seinerzeit den Guggenheim-Preis. Keine Kleinigkeit  angesichts der sozialen Zusammensetzung der damaligen Schüler. „Ich entstamme nicht  dem Bildungsbürgertum“, vermerkt der Rektor im Rückblick auf seine Jugend. 
 Nach der Matura waren für den Romanisten die Stadt Tours und generell die  französische Literatur  bedeutende Bildungserlebnisse. An der Uni Fribourg studierte Wiedemeier  Theologie zu einem Zeitpunkt, da Öffnung angesagt war bei gleichzeitigem Halten  eines bedeutenden akademischen Niveaus. Als Gymnasiallehrer unterrichtete er  noch Italienisch; in Luzern zeitweilig zusammen mit Religion, Französisch und  Informatik. Doktoriert hatte er über den französischen  Bildungsreformer Bernardin de St. Pierre. „Wiedemeiers  Schaffen behielt Boden, eine ethische und fachliche Fundierung, einschliesslich  einer Schlagseite von Ungeduld“, steht in einer Luzerner Schulgeschichte über den abtretenden  Rektor von Wettingen geschrieben. Dieses Profil macht auch am Tage seines Rücktritts nicht den  Eindruck von abgeschliffen. 
Kurt Wiedemeier, der mit Wettingens Behörden, so den Gemeindeammännern Karl Frey und Markus Dieth in gutem bildungspolitischen Austausch war, wird sich mit seiner Gattin Claudia im französischen Périgord nach Abschluss eines strengen Schuljahres zunächst neue Kräfte auftanken. Die Bildungs- und Kulturlandschaft Aargau hat im 19., 20. und 21. Jahrhundert nicht zuletzt dank Wettingens Schuldirektoren regelmässig bedeutendes Profil gewonnen.
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