Peter von Matt: Genial eigenwillig, aber kein Literaturpapst
Pirmin Meier (78), Dr. phil. Pirmin Meier, alt Kantilehrer und Autor, erinnert sich an seinen berühmten Doktorvater mit Bezügen auch zu dessen Heimat in der Zentralschweiz, desgleichen ein Stück Literatur- und Universitätsgeschichte. Der Beitrag reiht sich an frühere Personen-Porträts im Textatelier.
Mit dem aus Nidwalden gebürtigen Germanisten Peter von Matt (1937 – 2025) starb fast gleichzeitig mit Papst Franziskus der wohl bestbelesene Literat der Deutschschweiz. Im Gegensatz zu seinem Meister Emil Staiger (1908 – 1987) und seinem Weggefährten Marcel Reich-Ranicki (1920 – 2013) war er kein «Literaturpapst», aber ein Literatur-Erzähler.
Als wohl gefragtester Redner bei grossen Jubiläen, auf dem Rütli, in seiner Heimat Nidwalden (1998) und beim Bruder-Klaus-Jubiläum (2017) glänzte Peter von Matt jeweils beim Nachdenken über die Ruhmesgeschichte wie gleichzeitig bei deren Destruktion, wie es einst Max Frisch bei «Wilhelm Tell für die Schule» (1971) versucht hatte. Als Zeitkritiker mit historischem Hintergrund war Peter von Matt über viele Jahre ähnlich gefragt wie der ähnlich brillante Redner Jean-Rodolphe von Salis (1901 – 1996), als Rilke-Kenner seinerseits ein begeisterter Literat. 1991 hatte ihm zu diesem Thema etwa Gertrud Leutenegger aber mehr zu sagen als Max Frisch, insofern sich die Autorin dem neuen Klischee vom «breitbeinigen Reaktionär» versagte. So von Matt in «Der Zwiespalt der Wortmächtigen in der Literatur», einem unterschätzten Benziger-Büchlein von 1991.
Peter von Matt entstammte einer bücherbegeisterten katholischen Innerschweizer Familie. Vater Papeterist, Onkel lnhaber einer bedeutenden Buchhandlung, in der einst Heinrich Federer und die damalige Star-Autorin Isabelle Kaiser ein- und ausgegangen waren. Höchst anregend für Peter von Matt Grossonkel Jakob Wyrsch, ein genialischer Psychiatrieprofessor und Autor, u.a. über «Die Psychologie der Landsgemeinde».Als bis heute wohl bedeutendster Schüler von Emil Staiger, übernahm Peter von Matt von demselben das Prinzip konsequenter Textnähe, ohne aber Staigers deologischen Verirrungen aufzusitzen. Die zehn Jahre als dessen Assistent und Assistenz-Professor waren mithin von Matts Inkubationszeit als lebenslang einzigartig anregender Literaturvermittler. Seminararbeiten bei Staiger wurden so gut wie immer von Peter von Matt korrigiert und kritisiert: so auch eine Studie des Verfassers dieses Nachrufs über «Glaubenswelt und Schulderfahrung Gretchens» bei Goethes Faust einem Total-Verriss in Richtung «Schulaufsatz eines braven Klosterschülers» unterworfen. Für mich Veranlassung genug, Peter von Matt später als Doktorvater zu erwählen. Zumal für den selben geschichtliche Motive massgebend wurden für Kritik an der Gegenwart, so am Beispiel der Zeit des Nationalsozialismus. Zu dieser Epoche hielt der frühe von Matt ein unvergessliches Seminar über Heinrich Mann und Gottfried Benn.
«Begreifen was mich ergreift»
Bei Emil Staiger verfasste Peter von Matt eine Doktorarbeit über Franz Grillparzers «Grundriss» seiner Bühnenkunst, später die Habilitationsschrift über «Die Augen des Automaten», einem Motiv bei E.T.A. Hoffmann mit von Matts Lieblingsmotiv auch psychologischer Analyse, dabei stets streng textbezogen. Wenn je einer dem Motto Staiger «Begreifen, was mich ergreift», nachgelebt hat, war es Peter von Matt. Er eröffnete mit seinen Perspektiven auch einzigartige Einsichten zum Beispiel über das Böse bei Jeremias Gotthelf, meines Erachtens bis heute die tiefsinnigsten Einsichten über den vielfach verniedlichten Berner Dorfpfarrer.
Heute kennt man Peter von Matt zumal als Verfasser einzigartig lesbarer wie auch gründlich analysierender literarischer Essays, unter denen Bände wie «Verkommene Söhne, missratene Töchter», «Die tintenblauen Eidgenossen», «Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist.»
Zu meinen Erinnerungen an den methodisch vorzüglichen Doktorvater von Matt gehört dessen einstige Seilschaft mit dem Mystikkenner Alois M. Haas, Assistent von Rektor Max Wehrli, der sich in der 1968er Zeit als «Schwein» betiteln lassen musste. Mit Nachdruck forderten linke Germanisten damals marxistische Professoren. Von Matt verdächtigten sie als meinungslosen psychologisierenden Schöngeist, Haas als papistischen Fundi. Das «Team» Haas – von Matt setzte sich aber beim damaligen Kulturkampf durch, weil man früher abgelehnte Katholiken nunmehr als das «geringere Übel» würdigte, dabei immerhin Gelehrte von nachträglichem Weltrang einstellte.
Widerstand leistete von Matt indes gegen die Mundart-Welle, war auch in Sachen Mundart-Literatur im Einzelfall vielleicht überkritisch. Dass auch auf diesem Gebiet Literatur höchster Qualität möglich ist, sozusagen eine Hölderlin-Tonart, erwies nicht zuletzt der Südtiroler Siegfried von Strachewiltz mit einzigartigen Übertragungen von Ezra Pound, seinem Grossvater, in die Südtiroler Mundart. Die Anregung, mich mit Pound zu befassen, verdankte ich indes Peter von Matt, auch ausgezeichnetem Kenner angelsächsischer Literatur.
Anstelle von Hinweisen auf von Matts kaum zu zählende Literaturpreise verweise ich auf seine Gattin Béatrice, deren Leistungen auf dem Gebiet der Recherche über Schweizer Literatur denjenigen ihres Gatten mindestens ebenbürtig sind. Ihr und der Familie gilt aufrichtiges Beileid für den Verlust einer Persönlichkeit, die im Hinblick auf die Vielseitigkeit des Literaturverständnisses einzigartige Verdienste erworben hat.
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