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BLOG vom: 2025-10-12

Ein Apokalyptiker

Zur Verleihung des Literaturnobelpreises 2025 an Laszló Krasznahorkai

Autor: Dr. H. L. Wessling, Osteuropahistoriker und Slawist, Deutschland

 

Es war in den letzten Jahren eher selten, dass das Stockholmer Nobelpreis-Komitee mit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises einen Volltreffer gelandet hat. Kompromiss- oder Proporz-Kandidaten, wie die Koreanerin Han Kang im letzten Jahr, oder eher weniger bedeutsame Autoren wie die amerikanische Lyrikerin Louise Glück [2020], der eigentlich kaum Nobelpreis-würdige Peter Handke [2019], die Polin Olga Tokarczuk {2018] oder der regimetreue Chinese Mo Yan [2012], Vertreter eines antiquierten sozialistischen Realismus, waren eher Fehlgriffe.

Mit der Vergabe des Literaturnobelpreises an den Ungarn Laszló Krasznahorkai hat man nun allerdings einen der Top-Favoriten auf diese Auszeichnung geehrt. „Für sein überwältigendes und visionäres Werk, das inmitten eines apokalyptischen Terrors die Macht der Kunst bekräftigt“. Er sei „ein großer epischer Schriftsteller“, der in der mitteleuropäischen Tradition stehe, die sich von Franz Kafka bis Thomas Bernhard erstrecke „und durch das Absurde und groteske Übertreibungen gekennzeichnet ist“, erklärten die Nobelpreis-Juroren und rühmen in ihrer Begründung seinen „kontemplativen, fein abgestimmten Ton“.

Vielen Experten gilt Krasznahorkai, 1954 in Gyula im Südosten des Landes geboren, als der bedeutendste ungarische Autor der Gegenwart, er wurde seit geraumer Zeit als Literaturnobelpreiskandidat gehandelt. Seine düsteren, teils apokalyptischen, teils meditativ-melancholischen Romane erscheinen seit den Achtzigerjahren auch in deutscher Übersetzung, zuletzt „Baron Wenckheims Rückkehr“ (2015), „Herscht 07769“ (2021) sowie vor zwei Jahren „Im Wahn der Anderen“, der drei Erzählungen enthält. Krasznahorkai hat mehrere Jahre lang in Deutschland gelebt und enge Beziehungen nach Berlin.

Die US-Autorin Susan Sontag hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, Krasznahorkai international bekannt zu machen. Sie bezeichnete ihn nach der Lektüre seines zweiten Romans, der auf Deutsch »Melancholie des Widerstands« heißt, als »Meister der Apokalypse«, der den Vergleich mit Gogol und Herman Melville nahelege.

Mich hat die Lektüre seines Erstlingswerks „Satanstango“ mit den drastischen Schilderungen von Menschen in sozial ausweglosen Situationen an die Romane von William Faulkner erinnert. Krasznahorkai hat einmal den bemerkenswerten Satz formuliert „Literatur ist nicht die Wirklichkeit, aber sie ist eine eigene Wirklichkeit!“

László Krasznahorkai hat zudem als Drehbuchautor von sich reden gemacht. 2011 schrieb er zusammen mit Regisseur Béla Tarr das Skript für den viel beachteten Film „Das Turiner Pferd“, der bei der Berlinale den Großen Preis der Jury gewann. Tarr war es auch, der aus Basis eines wiederum gemeinsam verfassten Drehbuchs Krasznahorkais ersten Roman „Satanstango“ verfilmte. Die Produktion aus dem Jahr 1994 gilt mit einer Laufzeit von 450 Minuten als einer der längsten Kinofilme aller Zeiten.

Nach Imre Kertesz [2002] ist Krasznahorkai bereits der zweite Ungar, der in diesem Jahrhundert von der schwedischen Akademie geehrt wird.

 

 

Bibliographie (Deutsche Übersetzungen)

Gnadenverhältnisse / aus dem Ungarischen von Hans Skirecki und Juliane Brandt. – Berlin : Literarisches Colloquium Berlin, 1988; Berlin : Berliner Künstlerprogramm d. DAAD, 1988. – Originaltitel: Kegyelmi viszonyok

Satanstango : Roman / aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. – Zürich : Ammann, 1990. – Originaltitel: Sátántangó

Melancholie des Widerstands : Roman / aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. – Zürich : Ammann, 1992. – Originaltitel: Az ellenállás melankóliája

Der Gefangene von Urga : Roman / aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. – Zürich : Ammann, 1993. – Originaltitel: Az urgai fogoly

Krieg und Krieg : Roman / aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. – Zürich : Ammann, 1999. – Originaltitel: Háború és háború

Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss : Roman / aus dem Ungarischen von Christina Viragh. – Zürich : Ammann, 2005. – Originaltitel: Északről hegy, Délről tó, Nyugatról utak, Keletről folyó

Seiobo auf Erden : Erzählungen / aus dem Ungarischen von Heike Flemming. – Frankfurt am Main : S. Fischer, 2010. – Originaltitel: Seiobo járt odalent

Die Welt voran / aus dem Ungarischen von Heike Flemming. – Frankfurt am Main : S. Fischer, 2015. – Originaltitel: Megy a világ

Baron Wenckheims Rückkehr : Roman / aus dem Ungarischen von Christina Viragh. – Frankfurt am Main : S. Fischer, 2018. – Originaltitel: Báró Wenckheim hazatér

Herscht 07769 : Florian Herscht Bach-Roman : Erzählung / aus dem Ungarischen von Heike Flemming. – Frankfurt am Main : S. Fischer, 2021. – Originaltitel: Herscht 07769 : Florian Herscht Bach-regénye

Im Wahn der Anderen : drei Erzählungen / aus dem Ungarischen von Heike Flemming ; mit Zeichnungen von Max Neumann und einem Schlagzeugsolo von Miklós Szilveszter. Inhalt: Animalinside ; Kleinstarbeit für einen Palast ; Richtung Homer. – Frankfurt am Main : S. Fischer, 2023. – Originaltitel: Mindig Homérosznak, Aprómunka egy palotáért, ÁllatVanBent

 

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