Textatelier
BLOG vom: 09.07.2018

Verrückter Wettbewerb: WM im Brennnesselessen

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D

 


Brennnessel
 

Es gibt schon die verrücktesten Hobbys und Wettbewerbe. So Extrembügeln am Berggipfel (D), Speedgriller (D), eine Weltmeisterschaft der Grimassenschneiden, Schweineschrei-Meisterschaft (F), Tomatenschlacht in Spanien, Kirschkernweitspucken in Düren (D), Bürostuhlrennen in Löhningen (CH), Sumpffussball in Finnland und eine Weltmeisterschaft im Brennnesselessen in England.

Die zuletzt genannte Veranstaltung hat mein Interesse geweckt. Die „World Stinging Nettle Eating Championship“, also die Weltmeisterschaft im Brennnesselessen, wird in Marshwood, einem Dorf in Dorset, 150 km südwestlich von London, ausgetragen. Wie mir unser in London lebender Blogger Emil Baschnonga mitteilte, lässt sich das Magenbrennen nach dem Essen mit Bier löschen. Er selbst beteiligt sich nicht an der WM. Er machte eine ganz andere Beobachtung: „In unserem Garten haben sich Nesseln angesiedelt, die den Schmetterlingsraupen schmecken.“

Nun zurück zur Weltmeisterschaft. Der „Sport“ ist keine Männerdomäne mehr. Heute mischen auch einige Frauen mit. Zum Wettkampf versammeln sich die Teilnehmer auf einer Wiese, nehmen nebeneinander an einem langen Holztisch Platz. Die Brennnesseln werden gewaschen und roh gegessen. Die Pflanzen dürfen nur mit der Hand angefasst und in den Mund gesteckt werden. Meterweise kommen die Pflanzen auf den Tisch, die Blätter werden abgezupft und gegessen. Dann folgt der nächste Meter. In einer Stunde sollen die Teilnehmer so viele Nesselblätter (in Metern gemessen) wie möglich in sich hineinstopfen. Der Weltrekord liegt bei beachtlichen 23 Metern Brennnesseln.

Um das Brennen auf Lippe und Zunge zu reduzieren, darf während des Wettbewerbs Bier, Milch, Wasser oder Saft getrunken werden. Ich kann mir vorstellen, dass die Teilnehmer keine schmerzresistenten Mägen haben. Die Magenreizungen werden sicherlich durch die Getränke abgemildert. Es wurde auch gemunkelt, dass die Teilnehmer „eiserne“ Mägen haben.

Die Idee zu diesem absonderlichen Wettkampf hatte ein Gartenliebhaber, der 1997 zwei Prachtexemplare für sich beanspruchte. Er hatte wohl die grössten Exemplare auf seinem Grundstück. Der Verlierer musste zur Strafe einen Stängel Brennnesseln verdrücken. Daraus entstand dann die WM.

Nach dieser amüsanten und ungewöhnlichen Geschichte über die Brennnessel kramte ich in meinem Archiv und aus unserem Heilpflanzenbuch „Arnika und Frauenwohl“ weitere Episoden heraus.

Kraut machte Pferde feurig
Früher gaben gewiefte Pferdehändler in Ungarn ihren Tieren, bevor sie veräussert wurden, Nesselsamen ins Futter. Die Wirkung soll enorm gewesen sein. Die Tiere wurden lebhafter, bekamen ein glänzendes Fell und einen feurigen Blick. Durch diese Massnahme wurden die Pferde sehr ansehnlich und liessen sich besser verkaufen.

Nach Pfarrer Johann Künzle (1857-1945) sind abgekochte grüne oder rohe gedörrte Nesseln eine gute Medizin fürs Vieh. Kluge Bauern, so betonte er, werden alle auffindbaren Nesseln für das Vieh aufspeichern.
Auch die Legeleistung der Hühner kann durch das Brennnesselkraut oder den Samen verbessert werden.
Viele dachen sich, wenn die Samen so gut bei Tieren wirken, warum nicht auch bei Menschen? Die vitalitätssteigernde Wirkung des Samens erkannte schon der römische Dichter Ovid (43 v. Chr.-18 n. Chr.). Er verwendete den Nesselsamen zur Herstellung eines Liebestrankes. Auch hippokratische Ärzte aus dem alten Griechenland empfahlen den Samen zur Steigerung der Vitalität.

Ein Kraut für Rheumatiker?
Früher war das Schlagen mit Brennnesseln bei Ischias, Hexenschuss, Rheuma und Gicht eine heroische Massnahme. Auch heute noch schwören so manche Rheumatiker auf diese Methode. Sie sind überzeugt, dass ihre Schmerzen durch diese Reiztherapie nachlassen.
Bei unseren Wanderungen sehen wir an Wegrändern immer wieder grössere Ansammlungen von Brennnesseln. Da wurde von Wanderfreunden geäussert, wer unter Rheuma leidet, solle doch mal ein „Bad“ nackt in so einem Brennnesselfeld machen. Bisher hat dies noch keiner praktiziert.

Sie musste mal dringend ins Gebüsch
Auf der Rückfahrt vom Urlaub war ein Ehepaar aus Baden mit dem Auto unterwegs. Es wurde schon dunkel. Als die Frau mal wusste, hielt ihr Mann an einem Parkplatz an, dann ging sie hinter einen Busch und verrichtete ihr Geschäft. Plötzlich ein Schrei, dann rannte sie mit runtergelassener Hose zu ihrem Mann. Der war ganz perplex. Auf die Frage, warum sie so hysterisch sei, erwiderte sie, sie hätte nach ihrem Geschäft aus Ermangelung von Toilettenpapier Grasbüschel ausgerupft und dann ihr Hinterteil abgewischt. Der Büschel enthielt jedoch neben Gras auch einige Brennnesseln. Nun brannte es höllisch in den hinteren Gefilden ihres Körpers.

Erkennen von unfruchtbaren Frauen
Früher glaubte man, dass eine Brennnessel eingeht, wenn sie mit dem Harn einer unfruchtbaren Frau begossen wird. Brennnesselsamen soll die Männer sexuell anregen und die Frauen fruchtbar machen. Als ich das einmal während eines Vortrages zusammen mit Frank Hiepe erwähnte, „protestierte“ ein Zuhörer: „Das stimmt nicht, es heisst: Es würde die Frauen nicht fruchtbar, sondern furchtbar machen.“ Vielleicht hatte er einschlägige Erfahrungen gemacht.

Hommage an die Brennnessel
 „Als ich angefragt wurde, ob ich das Brennnessel-Buch an der Vernissage vorstellen wolle, habe ich sofort zugesagt“, leitete der biologiekundige BOGA-Mitarbeiter Markus Bürki seine vortreffliche Rede ein. Er hatte eine frisch treibende Brennnessel in einem Blumentopf mitgebracht. (s. Blog vom 09.10.2009: „Brennnessel, Wegwarte, Wasser und ein Botanischer Garten“). Hier ein Auszug aus der Rede zur Buchvernissage Fernand Rausser/Walter Hess im Botanischen Garten in Bern:

„Die Brennnessel ist mir eine Altbekannte; sie war und ist mir in meinem Leben eine treue Begleiterin: Zuerst waren da natürlich die unangenehmen Erlebnisse: Die Aufforderung von älteren Kindern, diese weichen Blätter doch einmal anzulangen, das darauf folgende Brennen und das hämische Lachen der Anderen. Später ein folgenschwerer Sturz, nur mit Badehosen bekleidet, rücklings in einen Wald von Brennnesseln und die tröstenden Worte meiner Mutter, ich würde dafür später kein Rheuma mehr bekommen, welche mir damals für den Moment natürlich sehr weitergeholfen haben… Oder dann die Mutproben: Entweder eine Brennnessel anzufassen oder einen Viehhüter (Stromdraht).“

Internet
www.focus.de (hier sind skurrile Wettbewerbe aufgeführt, auch die WM im Brennesselessen in Marshwood, England)
www.welt-der-hobbys.de (Welt der verrückten Hobbys)
www.badische-zeitung.de („Der Sieg geht durch den Magen“ von Stefan Zahler)

Buchhinweise
Hess, Walter, und Rausser, Fernand: „Die Brennnessel – eine feurige Kraft“, Wegwarte Verlag, Bolligen BE 2009, ISBN 978-3-9523235-2-6.
Scholz, Heinz; Hiepe, Frank: „Arnika und Frauenwohl“, Ipa Verlag, Vaihingen 2013.
Vonarburg, Bruno: „Natürlich gesund mit Heilpflanzen“, AT Verlag, Aarau (Schweiz), 3. Auflage 1993.

 


*
*    *

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst