Textatelier
BLOG vom: 01.07.2005

Zahlungsmoral: Die „30 Tage“ werden immer länger

Autorin: Rita Lorenzetti

Eine Kundin bestellte bei uns Grundlagenmaterial für ihre Malerei. Sie sagte schon im Voraus, sie würde die Rechnung aber erst anfangs des nächsten Monats begleichen können. Ich lieferte die Teile ab, wurde von ihr zum Kaffee eingeladen, und danach wollte sie vor meinen Augen den Einzahlungsschein ausfüllen und die Zahlung sofort ins gelbe Quittungsbuch der Post eintragen. Damit ich es auch glaube, dass sie die Zahlung nach Eintreffen ihrer AHV-Rente sofort ausführen werde. Von uns wurde sie aber in keiner Weise gedrängt, die Lieferung sofort oder sogar noch bar zu begleichen.

Das ist aussergewöhnlich. Diese Künstlerin ist älter als ich und verkörpert noch jene seriöse Schweizer Mentalität, die einmal das Markenzeichen unseres Volkes war.

Als ich noch Briefpost austrug, hörte ich immer wieder einmal den Ausruf: „Hoffentlich bringen sie uns keine Rechnung!“ Meist ging ich nicht näher darauf ein. Für mich ist eine Rechnung immer eine Antwort auf eine vorher erbrachte Leistung. Darum habe ich Freude, wenn sie eintrifft. So kann ich meine Schuld bezahlen und mich danach wieder frei fühlen. Zudem gehört dann die Leistung, auf die sie sich bezieht, ganz mir. Eine prompte Zahlung kann auch Ausdruck von Dank für eine gute Arbeit oder für die prompte Lieferung eines gewünschten Produkts sein.

Früher wurde die Zahlungsfrist so angegeben: „Zahlung innerhalb von 30 Tagen.“ Dann fiel unversehens das Wort „innerhalb“ weg und das Ziel lautete nur noch „30 Tage“. Wie ich in Gesprächen, aber auch von meiner Mitarbeit in Buchhaltungen weiss, wird heute ab dem 30. Tag begonnen, an die offene Rechnung zu denken. Wie kürzlich veröffentlichte Statistiken zeigen, zahlen Schweizer heute die „30-Tage-netto-Rechnungen“ erst nach 60 Tagen und glauben noch, das sei normal.

Viele Mitmenschen setzen Lieferanten ohne deren Einverständnis als ihre Bank ein. Sie überbrücken Engpässe, indem sie jene warten lassen, die ihnen das geliefert haben, was sie brauchten. Oder sie spielen Macht aus, lassen Lieferanten zappeln. Ich habe auch schon das Argument gehört, Rechnungen sofort zu begleichen, sei übertrieben.

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sollten wir einander helfen. Dazu braucht es zuerst die Einstellung, dass wir alle voneinander abhängig und auch auf einander angewiesen sind. Wenn wir uns kulant verhalten, unsere Verpflichtungen rasch und unkompliziert erfüllen, dient das allen. Wir können mithelfen, Engpässe zu vermeiden und Löhne sicherzustellen. Solche Rücksichtnahme kann auch bewirken, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben.

Würde ich nur die Erfahrung aus meiner Mitarbeit in der Schreinerei meines Mannes kennen, ich müsste diesen Aufsatz nicht schreiben. Es gibt diese Kunden, denen der Inhalt des Worts „Zahlungsmoral“ noch geläufig ist. Sie ermöglichten, dass unser Kleinbetrieb seit 45 Jahren bestehen darf.

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