Textatelier
BLOG vom: 01.04.2013

„Mind the gap“ – Abstand halten oder Anteil nehmen?

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
In vielen englischen U-Bahn-Stationen warnt wiederholt eine Lautsprecherstimme die Passagiere: „Mind the gap“. Ein 20 bis 30 cm weiter Abstand tut sich zwischen der Standfläche bei den Türen und dem Bahnsteig auf. Ältere Leute auf unsteten Füssen zögern oder verweigern den Schritt über die Lücke hinweg. Ein Passagier springt bei und hilft ihnen über das Hindernis hinweg. Wer den Abstand nicht wahrnimmt, gerät in Gefahr.
*
 
Auch im Alltagsverkehr mit Menschen gilt die Maxime „Abstand halten“. Das bezieht sich auf Leute, die man nicht kennt. In unseren Breitengraden sind wir misstrauisch geworden. In Grossstädten sieht man sich oft genötigt, den Abstand zwischen Fussgängern vor uns und hinter uns zu vergrössern. Taschendiebe pirschen sich an ihre Opfer im Gedränge, in Warteschlangen und in voll besetzten Lokalen. Sie sind ganz besonders auf Kreditkarten und Laptops erpicht. Mit allerlei Kniffen gelingt es den Gaunern immer wieder, die PIN-Nummer des Opfers zu stehlen, sei es bei der Kasse in Einkaufszentren, sei es bei den Bankautomaten. Touristen sind am meisten gefährdet. „Trau, schau, wem“, rate ich. In Neapel kleide ich mich unauffällig, trage keine Markenuhr und hüte mein Bargeld tief in der verschlossenen Hosentasche. Die Hurenviertel sind für mich tabu. Viel Lumpenpack sammelt sich auch vor Grossbahnhöfen, worunter viele Drogensüchtige. Allerlei Ablenkungsmanöver werden inszeniert – und schwupp verschwindet eine Koffer oder Reisetasche.
 
Bei uns in Wimbledon erhalten wir jede Woche eine mehrseitige Zusammenfassung von Einbrüchen in Häusern und Wohnungen und werden ermahnt, die Türen und Fenster sicher zu verschliessen. Selbst eine kurze Abwesenheit genügt dem Gelegenheitsdieb, etwas zu erbeuten. Dabei richtet er auch viel Sachschäden an. Das sind Bagatellfälle für die Polizei, die nur statistisch erfasst werden. Selbst am helllichten Tag werden Juweliergeschäfte blitzrasch von professionellen Räubern überfallen. Die Schaufenster und Türen werden von einem gestohlenen Auto gerammt. Sie entfliehen dem Tatort auf Motorrädern.
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„Es gibt kaum eine grössere Enttäuschung, als wenn du mit einer recht grossen Freude im Herzen zu gleichgültigen Menschen kommst“, schrieb Christian Morgenstern. Auch das ist ein „gap“ – eine Lücke –, der ich im Leben oft begegnet bin. Ich selbst lasse mich leicht von Menschen, die mir über ihre Steckenpferde und Interessenbereiche berichten, begeistern. Man nimmt Anteil und empfindet mit. Man teilt sich mit. Gedankenaustausch belebt, erfrischt und erwärmt das Herz. Daraus entwächst Freundschaft.
 
Ausgerechnet im Zeitalter der hochgezüchteten Kommunikationstechnologie herrscht ein akuter Mangel an Substanz. Ich verweise dabei auf die Inhalte der Facebook-Plattitüden, die ausgetauscht werden, bar jeder Originalität und stinklangweilig wie Wetterberichte. Vorwurfsvoll wirft mir jemand vor: „Wo ist Ihre Toleranz?“ Ich frage mich: „Wo beginnt und endet die Toleranz?“ Der Mangel an Toleranz ist vergleichbar mit einer Strasse voller Schlaglöcher. „Mind the gaps!“
 
Ich habe ein Essay, 1969 geschrieben, aus einer Schublade ausgegraben. Er trägt den Titel „Toleranz“. Hier ist der damals geschriebene Text in gekürzter Form:
 
„Wo ein Wille, ist ein Weg, mein Weg … Dieses Verhalten ist der Knotenpunkt vieler Ärgernisse, wenn dieser Wille auf Gegenwille stösst. Der Schrecken des Schauerkabinetts ‚Welt’ wäre um vieles gemildert, gäbe es mehr Beispiele angewandter Toleranz und weniger des festgenagelten Eigensinns. Doch selten ist die so oft gepriesene, so wenig erwiesene Toleranz für den, der ihrer bedürfte. Die Leute sind nur grossmütig gegen sich selbst, ihren kleinen Schwächen und Eitelkeiten gegenüber, die sie hegen, pflegen und sich leicht vergeben. Verteidigen sie eine Schwäche in anderen, darf man sicher sein, dass sie mehr für sich selbst sprechen. Der Raucher tadelt nicht den, der sich auch eine Zigarette ansteckt, sondern beargwöhnt den Nichtraucher; er ist geneigt, weit Schlimmeres und Lasterhafteres zu vermuten, als das kleine Laster, das jener nicht mit ihm teilt.
 
Grossmut ist kein uns mitgegebener Wesenszug. Offener Sinn und Lebenserfahrung können sie bilden und weiten, das Elternhaus sie weitergeben. Enge, dogmatisch gebundene Anschauungen lassen sie nicht aufkommen. Deshalb sind Diskussionen mit Fanatikern, Überzeugten und Anhängern einer Richtung fruchtlos, denn sie weichen keinen Zoll vor noch so stichhaltiger Beweisführung. Dies tritt klar zutage vor allem, was Religion und Politik anbelangt.
 
Toleranz ist ein geeichtes Mass: Nüchtern stutzt subjektives Empfinden zugunsten objektiver Wertung. Wo dieser Massstab fehlt, kommt es zu heftigen Gefühlswallungen wie Abscheu, Neid und Rachelust, die unser Leben vergällen – bis ins Unermessliche. Auch der in Karrierenkletterei ausartende Ehrgeiz ist nur möglich, will man den anderen nichts zugestehen, stellt man verbissenes Machtstreben über Fairness, über die Sache an sich. Die Erfahrung aber erweist: Wenn und wo immer die Sache, die Aufgabe voransteht, bleibt die Belohnung nicht aus, gleichgültig, ob das Geschick ihn krönt oder nicht; gewiss ist ihm die innere Ausgeglichenheit eine der wenigen Münzen, die das Leben auszahlt. Sehen wir sie an, die anderen, vom unersättlichem Ehrgeiz Getriebenen: Ihre Gesichte sind Schlachtfelder geprellter Hoffnungen, eingemeisselter Unzufriedenheit.
 
Die Toleranz hat eine gefährliche Zwillingsschwester – vor dieser sei gewarnt! Unter ihrem gefälligen Kleid birgt sie ein Arsenal vergifteter Dolche. Der vorgetäuschten Grossmut vertraut sich mancher an, öffnet ihr weit sein Herzenskämmerchen … und hinterrücks stösst sie zu.
 
Wie der rüstige Wanderer morgens beschwingt ausschreitet, trägt die Toleranz leichter und weiter den Geist und verleiht ihm Schwung und lässt kleinliche Gedanken nicht aufkommen. Die Toleranz will geübt sein – sie entsteht im Wissen um die Dinge – und darf nicht mit der unbeschwerten Lässigkeit einer wiederkäuenden Kuh verwechselt werden, die nichts anficht. Der Alltag bietet jedem mancherlei nützliche Fingerübungen zur Toleranz. Wir wissen, dass man andere nur unter gewissen Voraussetzungen wohl nicht ändern, doch beeinflussen vermag, und dass sich dies nur lohnt, steht die Bemühung im Einklang mit dem Wert eines solchen Unterfangens. Den Mund eines Schwätzers stopft man nicht mit Einwänden, denn sie sind sein Treibstoff. Aber er hat sich bald ausgeplappert, bleibt sein Gegenüber stumm, selbst wenn dieser beiläufig zustimmend nickt, gerät des Schwaflers Segelboot zuletzt in die Windstille. Wollten wir einen Unsinn stets berichtigen, eine Übertreibung stutzen, würden wir uns für nichts verzetteln."
 
Hier entsteigen wir wiederum der U-Bahn: „Mind the gap!“
 
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