Textatelier
BLOG vom: 06.07.2012

Die herausragende Tanne – Nachbarin der Rautisiedlung

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Die städtische Wohnkolonie Rautistrasse in Zürich war in den 1940er-Jahren ein Vorzeigemodell. Eine Wohnsiedlung nach skandinavischem Vorbild. Mit viel Holz, im Landistil erbaut. 7 zweistöckige Häuser beherbergten 44 Wohnungen auf einem leicht abfallenden Gelände. Ein Ort mit viel Grün, mit Natursteinplatten belegten Wegen, mit Büschen und Bäumen. Verwachsen und doch nicht verwildert. Jedesmal, wenn ich dort vorbeigefahren bin, schaute ich nach ihm aus. Eine Art Idylle. Schon längere Zeit verlassen. Nun wird diese Siedlung abgebrochen. Sie ist verbraucht und entspricht nicht mehr den Ansprüchen und Raumnormen von heute. Neu werden hier 104 Wohnungen in 7 Neubauten entstehen.
 
Bevor die Bagger auffahren, haben wir noch Abschiedsfotos gemacht. Erst jetzt getrauten wir uns, näher in dieses Gelände hinein zu gehen. Wir entdeckten manch schöne Winkel und besonders auch die 3 Ateliers mit ihren von breiten Sprossen zusammengehaltenen Glasfronten. Ich sah sofort eine Verwandtschaft mit Bauten auf dem Monte Verità in Ascona, im Tessin.
 
Nach unserem Rundgang erinnerte ich mich, dass ich diesen Fussweg, auf dem wir gerade standen, schon einmal begangen hatte. Kurz nach unserem Umzug nach Altstetten. Ich war da auf der Suche nach dem Standort der grossen Tanne, die ich von unserem Esszimmer aus sehe. Ein prächtiger Baum, gesund, stark und gross. Aus meinem Blickfeld ein ausstrahlender Mittelpunkt. Wie ein markanter Berg. Damals aber konnte ich seinen Standort nicht finden.
 
Es gibt in unserem Umfeld nicht nur eine mächtige Tanne. Und die Wege zu ihnen sind geheimnisvoll, gehören in private Bereiche. Und immer stehen entweder Häuser davor oder andere gross gewachsene Bäume, die die gesamte Sicht auf „unsere“ Tanne verunmöglichen. Die Suche entwickelte sich unglaublich spannend. Einmal standen wir ganz nahe bei ihr, ohne zu wissen, dass sie es war, nach der wir fahndeten. Da kamen wir von der Abbruch-Siedlung her und waren nur durch einen Zaun von ihr getrennt. Wir sahen ihren Stamm, sahen die Wunden, die entstanden sind, als unterste Äste weggeschnitten wurden. Es war unmöglich, diesen Baum ganz zu erfassen. Der Abstand, der nötig gewesen wäre, ist hier nicht gegeben. Auch die dunkle Ausstrahlung, hier unten am Boden, wollte so gar nicht zum Bild passen, das wir von unserer Tanne entworfen hatten. Und doch war da auch eine Ahnung, diese da könnte die Gesuchte sein.
 
Gingen wir andere Wege, zeigte sich immer wieder eine Tanne, aber nicht die unsere. Die Art ihrer Krone war beim Suchen hilfreich. Sie kannte ich. Auch Form und Haltung ihrer Äste konnten uns weiterhelfen. Von meinem Esszimmerfenster aus sehe ich sie, wie sie diese wie zu einem Sonnenritual erhebt. Aber nirgendwo konnten wir ihre gesamte Ausstrahlung so sehen, wie es aus unserer Wohnung möglich ist. Wohl zeigte sie sich da und dort ebenfalls dominant, aber nie so frei, wie ich sie sehen kann.
 
Mit Primo zusammen betraten wir an diesem Abend auch Sackgassenwege. Allein hätte ich das nicht gemacht. Aber ohne die Sichten und Aussichten, die sich da ergaben, hätten wir die Mitte unseres Labyrinths nicht erreicht. Einmal wurde ein Fenster geöffnet und nach unserem Weg gefragt. Es war ein freundlicher Mann, mit Primo bekannt. Wir wussten nicht, dass er hier wohnt.
 
An diesem Abend kam ich an viele etwas versteckte Orte in meiner nächsten Umgebung. Und ich sah in manches Dahinter. Die Fronten, die ich mit meinem Blick aus den Fenstern unserer Wohnung sehe, wurden zu Gebäuden. Zu meinem Dorf. So empfinde ich die Umgebung am Abend, besonders nach dem Eindunkeln, wenn eine Strassenlaterne ihr mildes Licht ausstrahlt und uns den Weg weist. Mir wurde bewusst, dass diese Umgebung mein Daheim ausmacht, auch wenn ich die vielen Menschen, die hier wohnen, nicht kenne.
 
Am andern Morgen ging ich nochmals ins Geviert der Girhalden-, Meiental-, Stampfenbrunnen- und Rautistrasse. Wieder mit dem Fotoapparat, und mehr und mehr verdichtete sich die Gewissheit, wir hätten unsere Tanne gestern gesehen. Ich fotografierte sie an verschiedenen Orten und erzählte am Mittagstisch davon. Primo stellte Fragen, die ich nicht beantworten konnte, und darum ging ich am Nachmittag nochmals auf die Pirsch. Ohne Fotoapparat, also ohne Ablenkung, und da entdeckte ich dann den Zugang von der Stampfenbrunnenstrasse her. Er führte mich in ein stilles Gelände, vorbei an gepflegten Häusern und Gärten. Ich fragte mich, ob ich im Paradies angekommen sei. Und weit vorne, in voller Grösse, entdeckte ich den gesuchten Baum und das militärgrüne Haus, in dessen Garten er steht. Da stand ich, jetzt ohne trennenden Zaun. Sichtbar vom Erdreich bis zur Krone. Ich hatte die Labyrinthmitte erreicht, war am Ziel angekommen.
 
Auf eine Art trunken, kam ich wieder heim. Es hatte sich eine feinsinnige Stimmung ergeben, in der ich nun auch diesen Beitrag schrieb.
 
Jetzt hoffe ich, dass der Baum stehen bleiben darf. Glücklicherweise befindet er sich nicht im Gelände der Wohnkolonie, die abgebrochen wird. Für mich ist er ein Freund, mit dem ich in den Himmel schaue. Den Bewohnern des grünen Hauses aber nimmt er viel Licht weg. Ich könnte verstehen, dass er von ihnen nicht so geschätzt wird wie von mir.
 
 
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