Textatelier
BLOG vom: 03.06.2011

Berliner Reichtagshaus: Glaskuppel mit spiegelndem Rüssel

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
„Der Deutsche Bundestag ist nicht irgendein Gremium. Der Bundestag steht im Mittelpunkt unserer Verfassungsordnung. Er ist das entscheidende politische Forum der Nation.“
Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestags
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Das neue Reichstagsgebäude in Berlin, in dem der Deutsche Bundestag unter einer ausladenden, begehbaren Glaskuppel seine Beschlüsse fasst, ist eines der eindrücklichsten modernen Architekturdenkmäler, die ich kenne. Und dazu visualisiert es die typische Berliner Mentalität, die ein Bauwerk eigentlich nur dann als gelungen einstuft, wenn es Geschichtliches mit Modernem verbindet. Das Musterbeispiel ist die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Berliner Ortsteil Charlottenburg, die in der Nacht zum 23.11.1943 aus der Luft angegriffen wurde und in Brand geriet. Diese Zerstörung hatte vor allem symbolischen Charakter, war die evangelische Gedächtniskirche doch ein Ausdruck des wilhelminisch-deutschen Nationalstolzes. Bis auf den massiven Turm musste später alles abgebrochen werden, und erst 1961 entstand nach Plänen von Egon Eiermann ein neues achteckiges Kirchenschiff und daneben ein frei stehender Glockenturm; der neoromanische Turm blieb stehen, und der Kombination von Geschichte, der sich die Berliner stellen, und Gegenwart, in der neues Leben aus den Ruinen erblüht, war geschaffen.
 
Das Reichtagsgebäude
Und dasselbe Prinzip wurde auch bei Reichtagsgebäude angewandt. Der ehemalige Prachtbau von 1884‒1894 war ebenfalls ein imposantes Beispiel wilhelminischer Architektur. Der deutsche Architekt Johann Paul Wallot (1841‒1912) wollte damit die Grösse und Macht des 1871 in Versailles wiederbegründeten Deutschen Reichs verewigen. Zudem lag es ihm daran, die Architektur aus den Fesseln des strengen Historismus zu befreien, das heisst vom abgedroschenen Rückgriff auf ältere Stilrichtungen vom Klassizismus bis zur Romantik. Doch diese Ewigkeit wurde schon am 27./28.02.1933 (der Reichstag brannte durch Brandstiftung zum Teil aus und die Nazis kamen an die Macht) und vor allem im Zweiten Weltkrieg grösstenteils beendet. Der Reichstag war 1943 immer wieder schwer umkämpft und wurde durch Bomben zunehmend zerstört. In der Schlacht von Berlin brannte er total aus. 1945 wehte die sowjetische Flagge auf den Trümmern im rauen Wind, Sinnbild der deutschen Kapitulation.
 
1954 wurden die Reste der alten Kuppel, eine Eisen-Glas-Konstruktion, gesprengt. Ab 1961 wurden auch hier die „Ärmel uffjekrempelt“ und ein Wiederaufbau beschlossen; die übrig gebliebene Substanz wurde trotz fehlender Kuppel erhalten. Seit damals kann man über dem Hauptportal die aus dem Ersten Weltkrieg stammende Inschrift „Dem deutschen Volke“ wieder lesen, den Symbolwert auch dieses Hauses betonend. Das Gebäude an der Scheidemannstrasse/Ebertstrasse wurde nun als Dependance des Bundestags, als Museum, für Festivitäten und Rockkonzerte benützt.
 
Am 29.10.1991 beschloss der Bundestag, von Bonn nach Berlin umzuziehen und das Reichstagsgebäude für parlamentarische Zwecke zu nutzen. Der englische Architekt Sir Norman Foster (geb. 1935) erhielt den Auftrag für den Umbau. Er entfernte zuerst einmal alle neueren Einbauten, aber die Aussenfassaden des 137 Meter langen und 97 Meter breiten, neobarocken Bauwerks blieb stehen. Aufgrund eines Bundestagsbeschlusses von 1995 musste wieder eine Kuppel in einer reduzierten und modernen Form aufgesetzt werden. Forster beugte sich und schuf die berühmte begehbare, 23 Meter hohe und 40 Meter breite Glaskuppel, die direkt über dem Plenarsaal thront, dem Tageslicht den Einfall ins Innere nicht verwehrt und nach aussen die Funktion eines Wahrzeichens, an denen in Berlin kein Mangel besteht, erfüllt. Laut Foster ist sie „der radikale Ausdruck einer neuen Demokratie in all ihren unterschiedlichen Aspekten“.
 
Orientierung im Plenarsaal
Am Samstag, 28.05.2011, hatte ich Gelegenheit, das Reichstagsgebäude zu besuchen; die von den langen Atomenergieausstiegsdebatten mit den vielen Reden und Gegenreden ermüdeten Parlamentarier erholten sich gerade ausserhalb der Stätte ihres Wirkens. Solche parlamentarischen Ruhepausen sind allseits beliebt; denn das Volk hat dann Gewähr, dass kein Unsinn beschlossen wird.
 
Man kann aber selbst an rede- und beschlussfreien Tagen nicht einfach ins vornehme Haus hineinstolpern, sondern hat sich bei Besucherdienst des Deutschen Bundestags (E-Mail: besucherdienst@bundestag.de) anzumelden, oder unter www.bundestag.de (Rubrik: „Besuchen Sie uns“) – jährlich machen davon rund 3 Millionen Menschen Gebrauch. Vorbildlich: Kaugummi kauen ist im Hause verboten – ausgerechnet im US-hörigen Deutschland.
 
Wie auf einem Flughafen muss man sich ausweisen und kontrollieren lassen, nachdem es einem gelungen ist, die Eingangsschleuse zu passieren. Dann stehen zahlreiche Informationsbroschüren zur Verfügung, eine sogar über das „Parlamentsdeutsch“ (Lexikon der parlamentarischen Begriffe). Denn was sich zum Beispiel hinter dem Begriff „Demokratie“ verbirgt, ist von Land zu Land verschieden. Laut Grundgesetz (die Verfassung) ist die Bundesrepublik Deutschland eine solche Demokratie. Und dazu liest man: „In dieser Staatsform übt das Volk die Herrschaftsgewalt aus. Demokratien zeichnen sich unter anderem durch Achtung der Menschenrechte, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Unabhängigkeit der Gerichte, Gesetzmässigkeit der Verwaltung, ein Mehrparteiensystem sowie freie, gleiche und geheime Wahlen aus. Die Bundesrepublik ist eine repräsentative Demokratie, in der das Volk durch gewählte Volksvertreter ‚herrscht’. Diese Volksvertreter bilden den Bundestag, der das einzige unmittelbar demokratisch gewählte Verfassungsorgan ist.“
 
In Kürschners Volkshandbuch „Deutscher Bundestag. 17. Wahlperiode“ sind alle 622 Bundestagsmitglieder vorgestellt, wobei sich natürlich immer wieder Wechsel ergeben. Wir konnten uns auf der über ein spezielles Zwischengeschoss zu erreichenden Besuchertribüne gemütlich einrichten und uns von einem versierten Sprecher des „Referats Öffentlichkeitsarbeit“ detailliert über die Funktion des deutschen Parlamentarismus orientieren lassen – mit Blick auf die zur violetten Farbe tendierenden, reichtagsblauen Stühle, die sich je nach Licht verändern, unter dem an der Stirnwand des Plenums hängenden, dominanten Bundestagsadler aus Glas. Zu seinem Füssen befinden sich die Plätze des Sitzungsvorstands, davor das Rednerpult und die Bank der Stenografen. Der Stuhl der Bundeskanzlerin hat eine leicht erhöhte Rückenlehne, und die Mikrofone sind schräg gestellt, damit sie die Gesichter der Sprechenden nicht zu sehr verunstalten, vor allem wegen der Fotografen und Fernsehaufnahmen. Gegenüber dem Präsidentenpodest sind neben den Wänden aus Obernkirchener Sandstein die Abgeordnetensitze aufgereiht, nach Fraktionen geordnet, wie es sich gehört: das berühmte Links-Rechts-Schema, ein Relikt aus der Zeit der Französischen Revolution. Die Parlamentarier beginnen ihre Karriere als Hinterbänkler und rutschen mit der Zeit nach vorn. Nur die ersten 2 Reihen sind mit Telefonen ausgestattet; Handys sind nicht erlaubt, eines Parlaments unwürdig. Aber neuerdings ist es laut einem Beschluss des Ältestenrats gestattet, eine Rede vom iPad abzulesen.
 
Unser Referent wies auf den bei allen Parlamenten üblichen Zustand hin, dass viele Sitze während der Sitzungen unbesetzt sind: „Nur wenn ein Parlamentarier nicht im Saal ist, arbeitet er.“ Seit meiner eigenen Tätigkeit als seinerzeitiger Berichterstatter aus dem Aargauer Grossen Rat habe ich Verständnis für jene, die nur zu Abstimmungen in den Saal zurückkehren – die Entscheide sind ja in den Ausschüssen (Fraktionen) bereits gefallen, und was vor den entleerten Stühlen erzählt wird, ist mehr für die Öffentlichkeit bestimmt; die Insider wissen im Voraus, was da herauskommen wird. Vor Abstimmungen wir geläutet und alle eilen wieder an ihren Platz.
 
Energie-Wendezeit
Beim Informationsmaterial lag am Tage meines Besuchs gerader die mit einer Debatten-Dokumentation angereicherte Zeitung „Das Parlament“ vom 16.05.2011, deren Schlagzeile „Klar zur Energiewende“ lautete, das brandaktuelle Thema jener Tage. Der Teufel stecke im Detail, hiess es da, nachdem allmählich durchsickert, dass der Atomausstieg einen enorm hohen Preis hat. Dazu gehören unter anderem neue Stromtrassen und ein Netzausbau. Und wie wird man mit dem aus der zunehmenden Stromproduktion aus fossilen Brennstoffen anfallenden CO2 fertig? Wahrscheinlich nach dem atomfreien österreichischen Muster, wo das Kohlendioxidausstoss ständig steigt und Atomstrom aus Nachbarstaaten aufgekauft wird ...
 
An eine unterirdische CO2-Speicherung (CCS = Carbon Capture and Storage) glaubt mit Ausnahme der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, Katherina Reiche (CDU), dem FDP-Abgeordneten Michael Kauch und dem WWF wahrscheinlich kein Knochen so recht; doch hört es sich gut an. Das CO2 müsste von anderen Substanzen getrennt, verflüssigt und dann mit Lastwagen oder über Pipelines zu interirdischen Deponien mit höchsten Sicherheitsanforderungen verfrachtet werden – mit hohem Energieaufwand. Mit dieser ebenso teuren wie gefährlichen Technik will man die Atmosphäre entlasten und der Klimaerwärmung entgegenwirken. Eva Bulling-Schröter (die Linke) warnte vor diesem neuen Endlagerproblem, wie in der Parlamentszeitung steht.
 
Dachgarten-Restaurant
Eine Energiezufuhr von der delikaten Art brach im Dachgarten-Restaurant des Bundestagsgebäudes herein – ein exzellenter Brunch auf hohem Niveau von Feinkost Käfer betrieben. Es handelt sich dabei um das einzige öffentliche Restaurant in einem Parlamentsgebäude weltweit. Wenn alle Volksvertreter so perfekt wie die Betreiber und Bediensteten dieser aussichtsreichen gastlichen Stätte funktionieren würden, wäre es auf dieser Welt noch viel schöner, angenehmer, das reine Vergnügen.
 
Rund um die Glaskuppel
Und selbstredend ist solch ein Frühstück der ideale Einstieg in den „Publikumsmagneten Glaskuppel“, dieser strahlenden architektonischen Leistung mit dem rüsselförmigen Trichter im Innern, an dem 360 Spiegel befestigt sind, die das Tageslicht in den Plenarsaal ablenken und damit dort unten für die nötige Erhellung sorgen. Im Inneren dieses Trichters ist eine Wärmerückgewinnungsanlage versteckt, welche die Abluft (inklusive die „heisse Luft“) aus dem Parlamentssaal nutzt, um das Gebäude zu heizen. Und auf dem Süddach des Hauses ist zudem eine 300 Quadratmeter grosse Fotovoltaikanlage für „sauberen Strom“ besorgt. Noch ein Vorbild. In unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes befinden sich Bürobauten des Deutschen Bundestages: das Jakob-Kaiser-Haus für die Abgeordneten, das Paul-Löbe-Haus für die Ausschüsse des Parlaments, repräsentative Gebäude, die ebenfalls mit ähnlichen Anlagen ausgestattet sind. Wenn ich mir allerdings das Ertrags-Kosten-Verhältnis dieser Energieerzeugungsanlagen ausmale, dann wird die Sache leicht schattiger – wer kann sich schon einen spiegelnden Rüssel leisten!
 
Weniger überzeugend sind die Blockheizkraftwerke des Parlamentsviertels, zu dem auch das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus für die Bibliothek und den wissenschaftlichen Dienst sowie die Schweizer Botschaft, ein eher trostloser Kubus, der seinen Standort hartnäckig zu verteidigen wusste, gehören. Die Kraftwerke bilden laut der Broschüre „Fakten. Der Bundestag auf einen Blick“ das „Kernstück des Ökokonzepts“ und arbeiten nach dem Prinzip der Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung mit sogenanntem Biodiesel, der aus Raps gewonnen wird. Biosprit-Pflanzen als nachwachsende Rohstoffe basieren zunehmend auf einem Raubbau an der Natur, und die Geschichte von der CO2-Neutralität ist ein Märchen, an das nicht einmal mehr Kinder glauben. Die Biosprit-Pflanzen fressen den Nahrungspflanzen den Platz weg und die Industriebauern verseuchen oft auch das Grundwasser und die übrige Umwelt mit Herbiziden. George W. Bush hat sie während seiner Präsidentschaft kräftig gepuscht, ohne sich geistig gross über die Auswirkungen zu verunköstigen.
 
Kuppel-Rundgang
Aber die Sache war ja gut gemeint, wie jene mit dem gedankenlosen Atomausstieg auch. Von Gedanken daran sollte man sich die Freude an der wunderbaren Innen- und Aussicht beim spiralförmigen Rundgang im Kuppelinneren nicht verderben lassen. Ein gratis abgegebener Audio-Guide, wie ich ihn in dieser Perfektion noch nicht angetroffen habe, flüstert dem Binnenwanderer je nach dessen Standort metergenau ins Ohr, was er gerade sieht. Das Spektrum reicht vom Gebäude der Bundespressekonferenz, dem Bettenhaus der Charité, dem ehemaligen Kaiserlichen Parlament, dem Fernsehturm, dem Deutschen Dom über das Axel-Springer-Hochhaus, das restaurierte Hotel Adlon und das Brandenburger Tor bis zum Potsdamer Platz, zum Tiergarten, zur Siegessäule und zum neuen Berliner Hauptbahnhof, der 2006 eröffnet wurde, einer der grössten und modernsten Kreuzungsbahnhöfe Europas. Das alles lag unter weissen Wolkenbergen, die den blauen Himmel modellierten.
 
Wegen der Bänder des Kuppeltraggestells und des einspurigen Wanderwegs innerhalb der Kuppel, in der die sich bewegenden Besucher zum Bestandteil des Gesamtkunstwerks werden, sind die Bilder um eine zusätzliche Dimension angereichert und durch die aufeinandergeschichteten Spiegelserien am Rüssel vervielfältigt - ein labyrinthischer Spiegelsaaleffekt.
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Berlin hat auch architektonisch Grandioses zu bieten. Darüber, was ausserhalb des Reichstagsgebäudes in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich passiert ist, will ich in einem nächsten Blog berichten. Auszugsweise. Der Überfülle wegen.
 
Quellen
Imhof, Michael, und Krempel, León: „Berlin. Neue Architektur“, Michael Imhof Verlag, D-36100 Petersberg 2008.
Schulz, Paul Otto, und Pansegrau, Erhard: „Berlin“, Bruckmann Verlag, München 2000.
Streidt, Gert, und Feierabend, Peter: „Preussen. Kunst und Architektur“, Krönemann Verlagsgesellschaft, Köln 1999.
 
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