Textatelier
BLOG vom: 06.01.2011

Im Viadukt Zürich: Alte Brückenbögen krönen Delikatessen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Das unendliche Ausufern der Städte ist von Übel. Sie fressen offenes Land, sind unersättlich – man spricht von Zersiedelung. Sie verlängern und verteuern die Infrastruktur, was allmählich zur Einsicht geführt hat, dass man diese Zusammenballungen verdichten statt ausweiten sollte.
 
Ein gleichzeitig schönes und auch gelungenes Beispiel dafür ist der Wipkinger Viadukt, der sich wie eine landschaftliche Barriere mit vielen Torbögen zwischen dem Escher-Wyss-Platz und dem Limmatplatz im Zürcher Industriequartier in die Länge zieht. Er ist ein Bestandteil des Aussersihler Viadukts, der 2 Eisenbahnbrücken umfasst, die am 18.08.1894 eröffnet wurden. Der Aussersihler Viadukt führt vom 1898 gebauten Lokomotiven-Depot F quer über das Gleisfeld gegen den Bahnhof Wipkingen. Das 1898 erstellte Lokdepot ist eine etwa 200 m lange Halle mit Gleisanlagen und Fahrleitungen, in der bis in die jüngste Vergangenheit Lokomotiven gewartet wurden, und im Obergeschoss war die Betriebskantine einquartiert, in der sich die Bähnler mit währschafter Kost stärkten.
 
Bombenstimmung im 2. Weltkrieg
Vor 70 Jahren, am 22.12.1940 warfen – man glaubt es kaum – englische Flugzeuge grün leuchtende Brandbomben auf Zürich West ab. Diese haben neben anderen Zerstörungen auch ein Stück des Wipkinger Viadukts weggerissen. In der Maag-Zahnradfabrik wurde eine Bürodecke durchschlagen, und auch eine Autowerkstatt wurde getroffen. Eine 65-jährige Frau starb, 4 Bahnarbeiter wurden grösstenteils schwer verletzt. 1943 und 1945 bombardierten die alliierten Truppen die Maschinenfabrik Oerlikon, welche für beide Kriegsparteien 2-cm-Kanonen produzierte, und die Bahnlinie bei Zürich Seebach. Am 04.03.1945 warfen amerikanische Liberator-Maschinen Bomben über der Landwirtschaftsschule Strickhof ab. Was war denn da eigentlich los? In der Schweiz wurden die Ursachen der Bombardierungen teilweise verwedelt. Beim Angriff 1940 wurde so getan, als ob die 29 britischen Wellington-Bomber eigentlich die Motorenfabrik Mannheim D zerstören wollten und sich bloss verflogen hätten ... Mit der Verbreitung von solch einem Nonsens dürfte man allmählich aufhören. Wie können 29 Piloten nicht merken, dass sie weit weg von Mannheim waren? Wesentlich wahrscheinlicher ist die Vermutung, dass Bomben als Warnung dienten, den Eisenbahntransit zwischen Deutschland und Italien einzustellen. Zumindest wurde dieser Erklärungsversuch erhärtet, als die Bombardierungen 1943 und 1945 weitergingen, wobei hier auch andere Motive mitgespielt haben dürften.
 
Zurzeit werden die Löwenbräu-Zürich-Fabrikanlagen abgebrochen; die Silos und die historisch wertvollen Gebäude bleiben erhalten – und so liegen wieder Trümmer herum. Hier wird eine Überbauung für Dienstleistungen, Wohnungen und kulturelle Nutzungen entstehen, wodurch dann auch die Läden im Viadukt aufgewertet werden. Daneben entstehen 2 Hochhäuser.
 
Strukturen im Industriegebiet
In Kriegen lügen offenbar nicht nur die Angreifer, sondern merkwürdigerweise auch die Opfer, dem Frieden zuliebe ... Die Schäden am Viadukt sind längst repariert. Über den Wipkinger Viadukt führen nach wie vor die Geleise unverdrossen zum Bahnhof Wipkingen und dem niedrigeren Lettenviadukt, der zum Bahnhof Letten führt, heute stillgelegt ist und als Fussgänger- und Veloweg dient und so die Stadtkreise 5 und 6 verbindet. Der Wipkinger Viadukt seinerseits wird immer noch als Verbindung der Bahn vom Hauptbahnhof Zürich durch den Wipkingertunnel nach Oerlikon benützt.
 
Die imposanten Viadukte, die als Strukturelemente in dem wirren Industriequartier stehen, welches bis 1880 auch Limmatquartier genannt wurde und an das sich auch Wohnbauten angenähert haben, stehen unter Denkmalschutz. Sie verdienen diese Ehrerbietung durchaus, zumal dieses Quartier, das einst zur Gemeinde Wiedikon, dann zur Gemeinde Aussersihl gehörte und seit 1913 den Zürcher Stadtkreis 5 bildet, schon früh von Bahnanlagen gekennzeichnet war. Diese Infrastruktur fand in der weiten Talebene von Sihl und Limmat den benötigten Platz und war natürlich ein Element der Stadtzürcher Ausuferung. Denn vorher standen hier, umgeben von Wiesen und Ackerland, nur wenige Höfe und andere Häuser.
 
Zusatz-Verwendung
Der Aussensihler bzw. Wipkinger Viadukt besteht aus behauenen Kalk-Natursteinen. Seine romantisierende Eleganz gewinnt er aus den 63 meist bogenförmigen Hauptöffnungen, deren grösste eine Weite von 22,72 m aufweist. Bei Strassendurchlässen sind Fachwerkbrücken eingebaut. Es lag nahe, diese Hohlräume unter beziehungsweise im Viadukt einer gleichermassen einträglichen und Quartier-belebenden Nutzung zuzuführen. „Der Viadukt wird zur grossmassstäblichen Vernetzungsmaschine und zum linearen Haus“, liest man auf der Webseite http://www.im-viadukt.ch/content/architektur. Und weiter: Die charakteristische Zyklopenmauer bildet dabei das zentrale atmosphärische Element. Die neuen Strukturen nehmen sich bewusst zurück und inszenieren die bestehenden Bögen. Für den Innenausbau können die Mieter aus einem Baukasten von Elementen wählen oder ihn selbst gestalten.“
 
Slow-Food-Futter aus dem Viadukt
Am 29.12.2010 unternahmen Edith und Wolfgang Byland und ich, getrieben von gleichermassen städtebaulichem und kulinarischem Interesse, eine Exkursion an die Limmatstrasse 231 in Zürich, weil es dort unter anderem innerhalb einer Markthalle einen Slow-Food-Laden gibt. Die seit September 2010 fertiggestellte Markthalle im Viadukt füllt eine Nische zwischen den Viadukten.
 
Der SF-Verkaufsstand, auf dem man gleich nach der Eingangstür zusteuert und auf dem die Produkte auf Augenhöhe angenehm präsentiert werden, wurde von der Genossenschaft Slow Food im Viadukt mit dem Ziel gegründet und betrieben, um unter anderem Produzenten und Konsumenten zusammenzuführen und die Slow-Food-Philosophie zu verbreiten. Insbesondere sind die Slow-Food-Convivien (Sektionen) Zürich, Aargau/Solothurn, Ostschweiz und Zürich Oberland sowie die Pro Specie Rara daran beteiligt. Die SF-Philosophie auf einen kurzen Nenner gebracht: Alte Sorten und Rassen sowie die Lebensmittelvielfalt erhalten und kleinen Bauern und Nahrungsverarbeitern zu einer Existenzgrundlage zu verhelfen.
 
Präsident der Genossenschaft SF im Viadukt ist Raymond Marti, und persönlich mit je 20 Prozent sind Sven Ahlborn und Mauro Melchiorre Catania beteiligt; diesen beiden obliegt die Geschäftsführung. Ich kenne sie von verschiedenen SF-Anlässen her. Mauro Catania ist ein waschechter Sizilianer, der in Höngg ZH wohnt und sich neben seinem Flair für urtümliche Lebensmittel auch als Maler künstlerisch betätigt. Er weiss mit Flächen und Farben umzugehen, und man hat beim Betrachten seiner Bilder das Gefühl, etwas von seiner von Kraft begleiteten Herzlichkeit herauszuspüren. In CH-8162 Steinmaur CH betreibt er die Catania Druckerei, die z. B. fotografische und digitale Produkte massschneidert („Catania visual creative factory“, www.cataniagroup.com). ‒ Sven Ahlborn wiederum ist Inhaber der boccafino in CH-8905 Islisberg AG, einer Boutique für Gourmets. Er beschafft und vertreibt (ohne Laden) regionale Lebensmittel und Weine, Delikatessen von Kleinproduzenten in Italien, Frankreich, Spanien, Österreich, Marokko und der Schweiz, um auf diese Weise seinen Beitrag an eine authentische Agrikultur zu leisten (www.boccafino.com). Die Produkte sind frei von chemischen Zusätzen.
 
Bei einem Rundgang durch die reich assortierte Markthalle im Viadukt erkennt man, dass es immer mehr verantwortungsbewusste Konsumenten mit einer feinschmeckerischen Begabung gibt, die sich zunehmend von der standardisierten, industriell hingeknallten Fabriknahrung abwenden und das Besondere suchen. Ich erinnere mich zum Beispiel an die gehalt- und im besten Sinne des Worts geschmackvollen Rohmilchkäse, die wir am SF-Stand degustieren konnten – vom Toggenburger Geissenkäse bis zum Alp-Sbrinz aus dem Halbkanton Obwalden, der jeweils im Sommer nach einem 500-jährigen Rezept hergestellt wird, und an einen Rohmilch-Parmesan, ein ohnehin rezenter Käse, der durch die im Urzustand belassene Milch noch an Fülle gewinnt. Diese Käse sind wie eine vorbildliche Stadt verdichtet – diesmal in Bezug auf das Aroma. Unvergesslich ist für mich auch der Zincarlìn da la Val da Mücc aus dem mir vertrauten Muggiotal (siege Blog Tessin-Reise (6): Muggiotal – Der Reiz der Abgeschiedenheit). Wie ein verfeinerter, schmelzender Gorgonzola setzt dieser Kuhrohmilchkäse mit etwas Salz und Pfeffer, der in einem Naturkeller während 2 Monaten mit Weisswein gewaschen wurde, Massstäbe. Sein Ammoniakaroma ist umwerfend.
 
Den Sbrinz servierte uns Lynn Valance, eine klassische Schönheit, schlank und gross, zusammen mit einer Art Kompott aus Hochstamm-Zwetschgen aus dem Oberbaselbieter Tafeljura, Zucker, Essig, Salz und Gewürzen: „Prune d’Or“. Die Kombination führt zu einem neuen, komplexen und dennoch runden Geschmackserlebnis.
 
Aus der Fleischecke taten sich neben einer Mortadella classica aus Bologna die rubinrote, mit geschmackshebenden Fettstreifen üppig durchsetzte Spalla Cruda hervor, eine uralte Wurst aus der italienischen Provinz Parma. Aus dem gleichen Gebiet, aus Zibello bei Parma, stammt der Culatello, ein in Handarbeit zubereiteter Schinken, der in eine durchlöcherte Schweineblase verpackt wurde. Er besteht aus dem Fleisch der schwarzen Schweinerasse Nera Parmigiana oder Razza Nera Toscana. Die Tiere werden 2 Jahre im Freien gehalten und mit Mais, Eicheln und Kastanien gefüttert. Der Schinken wird während 12 bis 15 Monaten luftgetrocknet. In bester Erinnerung geblieben ist mir noch der Bergeller Kuchen, der in einem Einmachglas mit Gummiring verpackt war. Er kommt aus der Chesa Alpina in Maloja GR und besteht aus Marroni, Eiern, Haselnüssen und Kirsch – nur Mehl ist nicht dabei. Der dunkelbraune Kuchen ist ebenso angenehm schmackhaft wie feucht, gewiss ein krönender Abschluss eines Festmahls. Auch Urdinkel-Nusstorten warten auf Käufer.
 
In der Markthalle im Viadukt gibt es viele weitere Stände, die Spezialitäten aus dem gehobenen Segment anbieten, immer in Bioqualität, die von Verantwortungsbewusstsein gegenüber Pflanzen, Tieren und den mit ihnen beschäftigen Menschen getragen ist.
 
Wie geht es weiter?
Laut einer Mitteilung der Genossenschaft SF im Viadukt sind die prognostizierten Besucherzahlen in der Markthalle noch nicht erreicht worden, so dass die bisherigen Einnahmen unter dem Soll blieben. Vorsorglich wurde den Mitarbeitern der SF-Genossenschaft auf Ende Januar 2011 gekündigt, ohne aber die Hoffnung aufzugeben; denn solche Unternehmen bedürfen einer gewissen Anlaufzeit.
 
Wörtlich heisst es im Schreiben der Genossenschaftsleitung von Ende Dezember 2010: „Wir möchten (...) diese einmalige Gelegenheit für Slow Food Schweiz, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren, nicht schon nach wenigen Monaten aufgeben. Wir brauchen dringend Mittel, um noch etwas länger ,Schnauf’ zu haben, bis sich das Viadukt etabliert hat. Deshalb gelangen wir mit diesem Aufruf an Sie (...): Werden Sie Genossenschafter oder spenden Sie der Genossenschaft Slow Food im Viadukt! Jeder Franken ist wertvoll! Wir zählen auf Ihre Solidarität, damit wir dieses Projekt für Slow Food weiterführen können! Wir sind überzeugt, dass wir mit Ihrer Hilfe den Neustart schaffen werden!
 
Slow Food Schweiz zählt über 3000 Mitglieder. Wenn davon 1000 einen Betrag von CHF 100 spenden wäre das Überleben der Genossenschaft Slow Food im Viadukt nachhaltig gesichert. Selbstverständlich können Sie auch Genossenschafter werden (mit Anteilsscheinen ab CHF 100.-). Sollte der bis zum 18. Januar 2011 erreichte Spendenbetrag kein nachhaltiges Fortbestehen der Genossenschaft garantieren, werden wir die gespendeten Beträge bis Ende Januar 2011 zurückvergüten. Falls wir das gesteckte Ziel erreichen, wird die Genossenschaft mit einem schlanken Modell den Betrieb neu lancieren.
 
Spendenkonto: IBAN CH73 0839 0031 0064 1000 5
Genossenschaft Slow Food im Viadukt Limmatstrasse 231 8005 Zürich
Alternative Bank Schweiz AG 4601 Olten, PC 46-110-7.“
 
Soweit der Brief, der eine schwierige Zeit charakterisiert und auf das Manna, das Himmelsbrot, hofft, das übrigens am SF-Stand auch verkauft wird. Ich selber rufe die Blog-Leserschaft auf, sich am Fuss der Viadukte umzusehen, durch wackere Einkäufe bei den Bögen einer guten Idee zum Weiterleben zu verhelfen und den engagierten Betreibern unterstützend zu ermöglichen, was der Dramatiker Franz Grillparzer voraussah: „Gebeugt erst zeigt der Bogen seine Kraft.“
 
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