Textatelier
BLOG vom: 18.11.2010

Endlager von Wissen und Inspirationen: Staatsarchiv Aargau

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Das Staatsarchiv des Kantons Aargau an der Entfelderstrasse 22 in CH-5001 Aarau macht keinen verstaubten Eindruck – im Gegenteil. Es ist im modernen Verwaltungsgebäude Buchenhof, das zwischen 1994 und 1998 nach einem Modularsystem-Grundmuster errichtet wurde, auf 2600 Quadratmetern untergebracht. Selbstverständlich habe ich dieses Wissen einem im Staatsarchiv eingelagerten Dokument entnommen: der Zeitschrift „Werk“ (Band 85, 1998). Darin ist auch zu lesen, dass die Tablarlänge allein im Archivlager 22 km lang ist; hinzu kommen noch 400 m Tablare für die Handbibliothek, sodann Raum für die Archivgutaufbereitung – von solch langen Gestellen kann ich als eifriger Bücher- und Dokumentensammler nur träumen. Staatsarchivarin Andrea Voellmin, sagte mir, im Staatsarchiv seien dank vorausschauender Planung noch Platzreserven vorhanden. Die Institution, die zum Aargauer Departement Bildung, Kultur und Sport gehört, krankt also nicht an der in Bibliotheken und Archiven verbreiteten Hypertrophie, eine Ausnahme. Und zudem bricht die platzsparende Zeit der Digitalisierung an.
 
Überwachte Offenheit
Das Staatsarchiv in dem Gebäude aus Backstein-Sichtmauerwerk auf einem Sichtbetonsockel, zu dem Nebengebäude aus rohem Sichtbeton gehören, ist für die Ewigkeit gebaut, ein dauerhafter Hort des Unersetzlichen, zum Teil Einmaligen. Als öffentliche Einrichtung ist es vom Montag bis Freitag zwischen 8.30 und 17.00 Uhr ohne Voranmeldung frei zugänglich, an Samstagen von 8.00 bis 11.45 Uhr, ausser Juli/August, weil dann auch die Archivalien (eingelagerte Dokumente) einmal Ferien haben möchten. Allerdings kann man nicht einfach unkontrolliert ins Archiv hineinplatzen; denn dieses Allerheiligtum der Kantonsgeschichte birgt zu kostbare Akten, um sie unbeschützt zu lassen.
 
So muss man sich zuerst einmal im Untergeschoss des verschachtelten Gebäudes, zu dem man sich durch verschiedene Hofbereiche, Wegweisern folgend, durchgearbeitet hat, anmelden. Der Besucher wird freundlich begrüsst und in die Funktion der gut behüteten Innereien eingeführt. „Sehen Sie den roten Knopf?“ Die Dame am Empfang zeigt gegen eine Wand im hinteren Teil, zu der nur noch wenig Lichthoflicht vordringen kann und wo sich vor dem neben Gipskarton-Lochplatten stark verbreiteten Sichtbeton eine Glaswand mit Tür befindet. „Sie müssen den Knopf drücken, und es wird ihnen aufgetan.“ So ungefähr. Ich drückte, die Verriegelung löste sich nach wenigen Sekunden. Der Besucher befindet sich jetzt im „Turm C“ und steigt über Treppen in den 1. und allenfalls 2. Stock hinauf, wird bereits mit Kameras überwacht. Und wenn man sich nach diesem Prozedere noch einmal an einem Schalter, diesmal an jenem des Staatsarchivs, anmeldet, wird man von Anita Müller wie ein Bekannter ausgesprochen, nett begrüsst und kann seine Wünsche äussern.
 
Vom Vergangenen bis zum Zukünftigen
Ich war in den vergangenen Tagen im Zusammenhang mit der kleinen Ausstellung zum Gedenken an den religionsskeptischen Schriftsteller Robert Mächler (1909‒1996, der zuletzt im nahen Unterentfelden AG lebte) dreimal in jenem Bau, in dem man sich ebenso leicht wie in der komplex verzahnten Geschichte verirren kann. Der Backstein-Betonbau vereinigt Vergangenheit und Gegenwart und steht dadurch auch in architektonischen Belangen für die Selbstdarstellung auf der Webseite http://www.ag.ch/staatsarchiv/de: „Das Archivgut ermöglicht jeder Generation den rationalen Umgang mit der Geschichte, fördert das Verständnis für die Gegenwart und Vergangenheit und verweist auf die Gestaltbarkeit der Zukunft.“ Gewiss: Die Gegenwart ist aus der Vergangenheit herausgewachsen, und die Jetztzeit ist die Basis für die Zukunft – aus diesem Prozess gibt es kein Entrinnen. Die Geschichte ist eine transzendente Macht, führt weit über die sinnlich wahrnehmbare Welt hinaus.
 
Zum Beispiel: das Mächler-Dossier
Zum Verstehen der Vergangenheit und deren Folgen, die wir Gegenwart zu nennen pflegen, tragen Archive in vielfältiger Weise bei, wie am erwähnten Beispiel mit Aussenseiteraspekten dargetan werden soll: Robert Mächler hat seine Materialien zu seinen Werken, Korrespondenzen, Tagebüchern und Fotos dem Staatsarchiv vermacht. Und Gabriele Röwer, die im Oktober 2010 eine kommentierte Briefesammlung im Buch „Arme Teufel sind wir alle ...“ (Haupt-Verlag, Bern) herausgab, stellte im Staatsarchiv eine kleine, mit Sorgfalt editierte und beschriftete Ausstellung in 2 Vitrinen zusammen: Bücher, handschriftliche Texte, Fotos usf.
 
Im Bestandesbeschrieb des Staatsarchivs, dessen Stil auf Gabriele Röwer hindeutet, heisst es dazu unter anderem, Mächlers geistige Existenz bewege sich um die „Suche nach Heimat, nach einem Sinn – des eigenen Lebens und der Welt im ganzen, immanent wie transzendent“. Hieraus resultierte die im Tagebuch „Blicke auf mich und mein Leben“ nach 1961 resümierte „Dreieinheit“ seiner Berufe: „Autobiograph, Religionskritiker und Utopist, deutlich gespiegelt auch im nun archivierten literarischen Nachlass. Die autobiographischen Teile machen Wert und Grenzen des Mächler’schen Werks verstehbar: Überschätzung seiner eigenen utopistischen Reflexionen, Unterschätzung seiner sprachlich wie inhaltlich beeindruckend klaren kritischen Essays sowie Rezensionen bedeutender, vor allem religionsphilosophischer und kirchenkritischer Werke anderer in zahlreichen Schweizer Zeitungen und Zeitschriften.“
 
Das Mächler-Dossier ist ein Beispiel für die anregende Tätigkeit des Staatsarchivs selbst ausserhalb kantonalpolitischer Bereiche. Es hat selber eine weit zurückreichende Geschichte, die dort ebenfalls archiviert ist, zum Beispiel durch einen Bericht über die „Hauptzüge des aargauischen Staatsarchivs“, der in der „Argovia“, der Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau (Band 91, 1979). Diese wertvollen Schriften sind digitalisiert und können übers Internet abgerufen werden:
 
Kantonsgeschichte spiegelt sich im Archivaufbau
Den Kanton Aargau gibt es erst seit 1803; aber vor der Kantonsgründung war hier kein Schwarzes Loch, sondern verschiedene Mächte rissen sich um dieses schöne Gebiet mit den Wasserstrassen an bester Durchgangslage von europäischem Rang. Das Staatsarchiv nimmt sich in seinem „Alten Archiv“ auch dieser Zeit ab 1027 und bis 1798 und damit den Rechtsvorgängern auf dem heutigen Aargau-Territorium an. Daran schliesst sich das „Helvetische Archiv“ mit Material der helvetischen Kantone Aargau, Baden und Fricktal (1798‒1803). Dann setzt das Neue Archiv mit Unterlagen der kantonalen Verwaltung ein: Dokumente aus dem Regierungsrat, dem Grossen Rat, der Verfassungsräte, Departemente, Bezirksämter und Notariate. Dazu gehören auch die Unterlagen der Justizbehörden wie des Obergerichts und der Bezirkgerichte. Ferner gibt es ein Archiv mit Plänen seit 1648 (Planarchiv). Und ebenfalls hier eingefunden haben sich Unterlagen von Personen, Vereinen und Firmen seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhundert sowie Sammlungen (Grafiken, Fotos – auch dokumentarische Bilder –, Filme, Siegel, Abschriften, Mikroformen und Objekte). Und endlich umfasst der Bestand Dokumentationen zu Personen, Familien, Gemeinden und Wappen aller Art.
 
Schon der Archivaufbau spiegelt die lebhafte Vergangenheit, und Mitarbeiter lieferten dazu Details, die im Internet auf der Staatsarchiv-Webseite aufgerufen werden können: (www.ag.ch/staatsarchiv/shared/dokumente/pdf/altes_archiv.pdf):
 
„Bis 1798/99 wurde das Kantonsgebiet als Untertanenland einerseits von einem bzw. von mehreren eidgenössischen Ständen und anderseits von der vorderösterreichischen Regierung und Kammer in Freiburg i. Br. aus regiert. Das Schriftgut der in diesen unterschiedlichen Hoheitsgebieten angesiedelten geistlichen Institutionen, die vor oder nach der Kantonsgründung von 1803 säkularisiert worden sind, und die Archive der weltlichen Herrschaften sind bis zu ihrer Aufhebung als Sonderbestände im Alten Archiv ausgewiesen. Damit umfasst das Alte Archiv Unterlagen bis 1876 und nicht nur bis 1798 oder 1803. Das wegen der speziellen Anforderungen an die Lagerung ausgesonderte Urkundenarchiv und das alte Planarchiv sind Bestände des Alten Archivs. Sie sind in einzelne Fonds gegliedert wie das Aktenarchiv. Für das Helvetische und Neue Archiv gibt es keine spezielle Urkundenabteilung mehr.
 
Für die Überlieferungsgeschichte des Alten Archivs hatte das Archiv der Finanzdirektion eine zentrale Bedeutung. Da die Ablösung der Feudallasten aus dem Ancien Régime, trotz programmatischen Erklärungen in der kurzen Zeit der Helvetik, sich im Aargau bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin zog und die Schuldverschreibungen weiterhin ein Finanzierungsmittel blieben, wurden die diesbezüglichen Rechtstitel vom jungen Staat Aargau gleich 1803 aus den eigenen Bezirksarchiven und aus denjenigen der Rechtsvorgänger im In- und Ausland energisch eingefordert. Diese Rechtsgrundlagen gelangten alle ins Finanzarchiv und wurden nach der Auswertung entweder in die Bezirksarchive zurück spediert oder einbehalten. Durch Beschluss des Grossen Rats wurden die Gültenprotokolle, Waisen- und Vogtprotokolle 1817 vom Finanzarchiv wieder an die Bezirksgerichte ausgeliefert, die sie an die einzelnen Gemeinden weiter zu leiten hatten. Es ist erstaunlich, dass bei diesen zahlreichen, über 50 Jahre dauernden Transporten in Obst- und Kartoffelsäcken oder Kisten kaum Verluste entstanden sind. Das Finanzarchiv war auch Parkplatz für Bestände bei Platznot im Staatsarchiv, so etwa für die bischöflich-konstanzischen Akten oder 1865 für die Ablieferung der Bezirksverwaltung Aarau mit Unterlagen des Oberamtes Biberstein.“
 
Der Wert von Archivmaterial und Archiven
Soweit das Staatsarchiv über die eigene Geschichte im geschichtlichen Zusammenhang. In solchen systematisch geordneten Umgebungen mit Schriftstücken aller Art, insbesondere auch in Bibliotheken, fühle ich mich wohl, sind sie doch immer das ideale Umfeld für die Einsamkeit des Schreibers, der irgendwoher inspiriert werden muss; sie sind mit Enzymen vergleichbar, die biochemische Reaktionen auslösen. Auch wenn sich auf den Buchblöcken im Regal etwas Staub abgelagert hat, so atme ich in solchen Gesellschaften aus Papier, Leder und anderen Bezugsmaterialien doch immer befreit durch, fühle mich geistig erfrischt, wenn ich bestimmte Titel gefunden und darin gelesen habe. Zum Recherchieren gehört das Wissen, wo und wie man etwas suchen muss.
 
Meine persönliche Bibliothek, der ich auch ein Archiv aus Zeitungs- und Zeitschriften angegliedert habe, ist während meines Lebens ständig gewachsen. Noch immer schätze ich dessen Wert höher als jenen von Geld ein, und so hatte ich dank meiner Dokumente immer das Gefühl, reich zu sein und, bei ihrem Anwachsen, wohlhabender zu werden. Mein Archiv und meine Bibliothek ermöglichen mir, was immer auch passieren mag, den ökologischen und geistigen Überlebenskampf auch dann zu führen und zu bestehen, wenn mein eigenes, bescheidenes Wissen dazu nicht ausreicht. Es ist fast so etwas wie ein Schlüssel zum Universum. Buchstaben haben ein besseres Gedächtnis als ich.
 
Inzwischen bin ich ein alter Mann geworden und gezwungen, die erdrückende Fülle von Papier zu reduzieren ... ohne das Kaufen von Büchern eingestellt zu haben. Ich vollziehe die reduktionistische Tätigkeit nicht im Sinne des modisch-einfältigen Loslassens, um zu neuen Ufern aufbrechen zu können – ich möchte schliesslich aufbauen und nicht immer umherirrend von vorne beginnen müssen, ohne weiter zu kommen.
 
Die Lösung habe ich darin gefunden, dass ich meine Bestände in kleinen Portionen exakt durchsehe und die Spreu vom Weizen trenne – eine Aufteilung aus heutiger Sicht, nach dem momentanen Stand des Irrtums ... Täglich wende ich rund eine Stunde dafür auf. Dabei kommen immer wieder Dokumente hervor, deren Existenz mir nicht mehr präsent war und die nun aus einer neuen, hoffentlich reiferen Betrachtungsweise einen höheren Stellenwert erhalten. Anderes aber, das mir in jungen Jahren als wertvoll erschienen war, bedeutet mir nichts mehr; sein Wert hat sich verringert.
 
Bei Zeitdokumenten fragt man sich nicht, ob sie noch aktuell seien. Sie behalten ihre Bedeutung. Weil sie zur Aufhellung der Vergangenheit beitragen, erhöht sich ihre Geltung mit zunehmendem Alter. Doch private Archive sind gefährdet, werden bei Todesfällen meist weggefegt. Umso wertvoller sind öffentliche Dokumentationsinstitutionen, die einen längeren Atem haben und Kontinuität gewährleisten. Der lichtdurchflutete Betonsarg namens Aargauer Staatsarchiv, offensichtlich mit Geschick und Liebe zur Sache betreut, ist eine Deponie und inspirative Lebenshilfe zugleich, ein Endlager von unschätzbarem Wert, hoffentlich ohne Halbwertszeit. Durch eine intensive Nutzung haucht man ihm Leben ein.
 
Hinweis auf weitere Blogs über Archive und Bibliotheken
 
Literaturhinweise zu Robert Mächler
Karlheinz Deschner (Hg.): „Zwischen Kniefall und Verdammung. Robert Mächler ein gläubiger Antichrist“, eine Auswahl aus dem religions- und kirchenkritischen Werk, Gifkendorf 1999.
„Kurt Marti ‒ Robert Mächler. Woher eine Ethik nehmen? Streitgespräch über Vernunft und Glauben“, mit einem Vorwort von Werner Morlang, Zürich 2002.
Werner Morlang (Hg.): „Robert Mächler. Robert Walser der Unenträtselte. Aufsätze aus vier Jahrzehnten“, Zürich/München 1999.
Gabriele Röwer (Hg.): „Robert Mächler. Ein Don Quijote im Schweizer Geistesleben? Auswahl aus dem autobiographischen, religionsphilosophischen und ethisch-utopistischen Werk“, Pano Verlag, Zürich/Freiburg im Br. 1999.
Gabriele Röwer (Hg.): „Robert Mächler. Irrtum vorbehalten. Aphorismen und Reflexionen über Gott und die Welt“, Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/Wien 2002.
Gabriele Röwer (Hg.): „,Arme Teufel sind wir alle ...’. Briefe von und an Robert Mächler über Gott und die Welt“, Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/Wien 2010.
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