Textatelier
BLOG vom: 22.09.2010

CH-Bundesratsersatzwahlen 2010: Gewisse Kontinuität bleibt

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
2 Bundesräte traten während der Amtsperiode zurück (Moritz Leuenberger, Sozialdemokrat, Vorsteher des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK und Hans-Rudolf Merz, Freisinniger und Finanzminister) und mussten am 22.09.2010 ersetzt werden. 6 Kandidaten wurden nominiert, wovon die Grüne Brigitte Wyss trotz guter persönlicher Voraussetzungen keine grossen Chancen hatte. Jean-François Rime (SVP) wirkte als belebendes Element, dem deshalb relativ gute Aussichten zugebilligt wurden, weil die wählerstärkste Partei mit bloss 1 Bundesrat (Ueli Maurer) untervertreten ist. So waren es also im Prinzip noch deren 5: Neben Rime die Sozialdemokratinnen Simonetta Sommaruga und Jacqueline Fehr, und die Freisinnigen Karin Keller-Sutter und Johann Schneider-Ammann, Maschinenbau-Unternehmer, der kraftvoll gegen Manager-Abzockereien auftrat, diese Haltung etwas milderte und in der Schweizer Wirtschaft Ansehen geniesst.
 
Zweifellos war die Ausgangslage spannend, um dieses bei jeder Gelegenheit angewandte Modewort auch noch aufzutischen. Doch dem wochenlangen Medientheater, das im luftleeren Raum aus Quotengründen bald einmal rund um die Uhr abgezogen wurde, fehlte das Fundament. Man wusste bis zuletzt nicht so recht, wie es herauskommen würde. Man konnte nicht einmal ernsthaft darüber diskutieren, ob eine Frauenmehrheit in der 7-köpfigen Landesregierung erträglich sein würde, denn erstens darf das ebenso wie eine Männermehrheit sein, und zweitens kommt beziehungsweise käme es nicht auf das Geschlecht, sondern auf die Befähigung an. In der Praxis müssen solche Überlegungen hinter den Bemühungen um die Sitzsicherung zurücktreten – eine Frage der Konkordanz (mitwirkend sind politisch verschieden ausgerichtete Akteure nach Massgabe der Parteienstärke), die seit der Wahl von Evelyne Widmer-Schlumpf im Dezember 2007 allerdings Schlagseite erhalten hat.
 
Die Frauenmehrheit wurde nach dem 4. Wahlgang mit der Wahl von Simonetta Sommaruga mit 159 Stimmen, „lösungsorientierte“ Konsumentenschützerin aus dem Kanton Bern, besiegelt. Sie ist im Volk beliebt, hat den Finger auf viele wunde Stellen im Handel gelegt, arbeitet exakt, aber bei begrenzter Belastbarkeit, sprach kürzlich von „Auszeit“, als ob das Bundesratsspiel einfach unterbrochen werden könnte. Sie wirkt eher unnahbar, was ich als positiv empfinde, weil das auch auf eine unabhängige Art hindeutet. In ihrem Befürworten des EU-Beitritts ist sie auf der gleichen Linie wie Moritz Leuenberger, den sie ersetzt. Diesbezüglich hat sich also zu meinem persönlichen Bedauern nichts geändert.
 
Der 2. Wahlgang bot mehr Überraschungspotenzial; alles war auch nach den 3 einleitenden Wahlgängen noch vollkommen offen. Das Schnüren von Pakten zur Machterhaltung und gegenseitigen Absicherung ist manchmal schwer vorauszusehen, auch wenn die Mechanismen grundsätzlich durchschaubar sind. Doch dann setzte sich im 5. Wahlgang Johann Schneider mit 144 Stimmen durch, obschon der Kanton Bern nun 2 Vertreter im Bundeshaus in Bern hat.
 
Bedauerlicherweise fiel die in jeder Beziehung talentierte Karin Keller-Sutter, Sicherheits- und Justiz-Ministerin des Kantons St. Gallen, wohnhaft in Wil SG, aus dem Rennen, aufgrund eines zufälligen Resultats. Sie hat bisher in ihrem Ostschweizer Kanton besonders in Fragen der Sicherheit und Migrationspolitik eine ausgezeichnete, profilierte Arbeit geleistet, beherrscht mehrere Sprachen perfekt, ist aber im Bundesbern wenig bekannt. Sie bezeichnet sich selber als „Patriotin“, was beim globalistischen Zerfall traditioneller Werte nicht überall gut ankommt. Die Schweizerische Volkspartei SVP hat durch ihr kaum zu erklärendes Festhalten an Rime die Gelegenheit verpasst, eine ihr nahe stehende Freisinnige ins Amt zu heben, ohne ihre berechtigten Ansprüche auf einen 2. Bundesratssitz zu eliminieren. Doch Karin Kellers politische Karriere ist damit hoffentlich noch nicht abgeschlossen.
*
Merz betonte in seiner Abschiedsrede für ihn wichtige Grundsätze: Die Schweiz brauche Kontinuität. Das Spektakuläre geschehe nie in der Politik. Die Politik solle aber dafür sorgen, dass dies in den Denkstuben, Universitätssälen und Werkstätten möglich sei. Hoffentlich meinte er mit Denkstuben nicht die auftragsgemäss lobbyierenden „Think tanks“, die alles andere als Stetigkeit, sondern Veränderungen als solche anstreben, im Auftrag der Unternehmen, die sie finanzieren.
 
Der abtretende Finanzminister konnte die Bundesfinanzen in schwierigen Zeiten in Ordnung halten und sogar Schulden um rund 20 Milliarden CHF abbauen. Davon, dass die Medien irrtümlicherweise glauben, das Wesentliche passiere bei ihnen, hat er nichts gesagt. Die Medien haben ihre grössten Talente im Aufheizen von Stimmungen; mir persönlich wäre eine angemessen dosierte Berichterstattung wichtiger als das Verbreiten von Spekulationen, die schon morgen nichts mehr wert sind.
 
Dabei macht sich auch Unbeholfenheit breit. Mehr und mehr sind die Medien auf Fachberater angewiesen, wobei bei der Direktübertragung der Wahlen durch das Schweizer Fernsehen SF 1 Iwan Rickenbacher immerhin einen guten und kompetenten Eindruck machte und den wohl etwas übermüdeten „Arena“-Moderator Reto Brennwald, der sich in den im Parlamentsgesetz festgehaltenen Wahlgebräuchen verheddert hatte, wieder auf den Wahlgesetzkurs zurückbegleiten konnte. Kontinuität: Auch Bundesratswahlen laufen nach dem immer gleichen Schema ab.
 
Und wir Schweizer wissen nun, von wem wir in den nächsten Monaten regiert werden ... doch halt: In unserem politisch austarierten Land regiert in Tat und Wahrheit das Volk, es hat das letzte Wort. „Die Schweiz ist ein Kunstwerk", sagte Schneider vor der Wahlannahmeerklärung, bei der er sich für die Weiterführung des bilateralen Wegs im Umgang mit den anderen Staaten aussprach.
 
Und zu diesem Schweizer Volk gehöre auch ich. Damit pflege ich mich persönlich nach Wahltagen jeweils zu trösten. Was man mir bitte nachsehen mag. 
 
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