Textatelier
BLOG vom: 12.11.2009

Täfeliwald im Wald: Die Bäume und Sträucher beschriften?

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Beim Besuch in unbekannten Landschaften an guter Aussichtslage würde es mir oft dienen, wenn die Dörfer, die Hügel und Berge mit ihrem persönlichen Namen angeschrieben wären. Das erübrigte das Auseinanderfalten und Durchsuchen der 25 000er- oder 50 000er-Landeskarte. Aber selbstredend geht dies im grossen Stil nicht; eine Riesentafel „MATTERHORN“ unter dem pyramidenförmigen Gipfelkopf, womöglich in Verbindung mit einer Toblerone-Werbung, wäre auch nicht gerade eine Landschaftsverschönerung.
 
Offene Bücher im Freien
Harmloser sind die vielen Aluminium-Tafeln und -Täfelchen, die in immer mehr Wäldern bei Bäumen und Sträuchern angebracht sind – und zunehmend auch an Natur-und Kunstwerken ausserhalb davon. Bei den Erlebnis- und Waldlehrpfaden gewinnt man auf spielerische Art Erkenntnisse über die Bedeutung und die Geheimnisse des Waldes über einzelne Pflanzen und das Wirkungsgefüge. Der Wald ist eine Lebensgemeinschaft, eine Biogeozönose, und nicht einfach eine Ansammlung von Bäumen.
 
Ähnliche Lehrpfade gibt es überall in der Landschaft zu Themen wie Astronomie (Planetenwege), Geologie (wie der Sandstein-Lehrpfad in Krauchthal BE), Landwirtschaft, Bauwerke, Industriegeschichte, Volkskunde, Mythologie usf. Und obschon ich nicht gerade ein Fan von Tafelansammlungen bin – hinsichtlich der Verkehrssignale wird vielerorts übers Ziel hinaus geschossen –, stören mich Hinweise zu den botanischen oder kulturellen Besonderheiten eines bestimmten Orts nicht. Mit Interesse lese ich auch die transparenten, unauffälligen Tafeln, die in Städten oder Dörfern zum Beispiel die Geschichte eines Bauwerks in kurzer Form erzählen und manchmal die Vergangenheit wenigstens andeutungsweise erschliessen.
 
Vielerorts spürt man, dass die Beschilderungen mit Einfühlungsvermögen in ein besonderes Thema angebracht worden sind. So bestehen die Tafelpfähle in Wäldern häufig aus ausgespartem und geschnitztem Holz, oder Wege zum Thema Kunst werden mit gestalterischem Geschick angelegt. Zugegeben, die Landschaft erhält dadurch den Charakter eines Freizeitparks. Doch sind diese Wege weniger auffällig und störend als etwa kilometerlange Rutschbahnen aus Kunststoff, Skilifte und herumstehende Schneekanonen.
 
Nachhilfeunterricht
Immer wieder wird mir bewusst, wie mangelhaft der Naturkunde- bzw. Biologie-Unterricht in den hermetisch abisolierten Schulzimmern war und wohl noch ist, offensichtlich bis hinauf zu den universitären Bildungsinstitutionen. Sonst würden unsere manchmal im Kahlschlagbetrieb bewirtschafteten, gleichförmigen Wälder mit geringen Altersunterschieden anders aussehen. Viele trotz Verbildung naturverbunden gebliebene Förster werden von Leuten, an welchen die Lektionen zur Vermittlung von Naturwissen spurlos vorbei gegangenen waren, aufgefordert, die Wälder von herumliegendem Holz zu „säubern“, die „Sauerei“ aufzuräumen. Sicher sind unter anderen auch Lehrer am Werk, die sich mit den Bildungshungrigen ins Freie vorwagen, doch sie sind rar. In den naturfernen Schulräumen wird zu viel prüfbares Detailwissen verabreicht. Da werden vorwiegend abfragbare Bruchstücke („Wie viele Kelchblätter hat die Zaunwicke?“ – Antwort: „5.“) aufgetischt statt dassversucht wird, das Verständnis für grössere ökologische Zusammenhänge herbeizuführen. Wer die Natur als mehrdimensionales Netzwerk versteht, wird automatisch zum Naturschützer – und umgekehrt. An solchen besteht immer noch ein eklatanter Mangel.
 
Die Lehrpfade im Wald und auf der Heide verstehe ich deshalb als Anlagen für die dringend nötige Nachhilfe, welche das mangelnde Naturverständnis kompensieren und obendrein die Wanderlust unterstützen, obschon sie immer wieder zum Anhalten und genauen Betrachten verlocken. Die Bewegung an der frischen, sauerstoffreichen Luft bei gleichzeitiger Wissensvermittlung anhand von Texten und Schaustücken in der richtigen Umgebung ist eine Kombination, welche die ästhetischenAspekte des Täfeliwalds positiv überlagert.
 
Nach der Schulzeit war auch mein Biologiewissen vernachlässigbar klein, und erst an Dutzenden von kommentierten Exkursionen von Natur- und Umweltschutzorganisationen konnte ich meine Defizite endlich etwas ausbügeln. Geografen, Biologen und Ökologen eröffneten mir neue Horizonte, motivierten mich zum Studium von Fachliteratur, und ich legte mir eine Bestimmungsbuch-Bibliothek zu. Von unbekannten Pflanzen nehme ich oft ein Blatt heim oder aber ich fotografiere charakteristische Merkmale, um sie später in Ruhe bestimmen zu können. Gleichzeitig setze ich mich auch über ihre Lebensansprüche, ihre ökologische Bedeutung und ihre Verwendungsmöglichkeiten z. B. als Heilpflanze ins Bild. Dabei erwacht meistens das Interesse, noch tiefer in die Naturgeheimnisse vorzudringen, auch wenn wir diese niemals umfassend ergründen können.
 
Der Erlebnispfad Entfelden
Am Sonntag, 01.11.2009, machte ich einen Nachmittagsspaziergang auf dem etwa 2,5 km langen „Erlebnispfad Entfelden“, der bei den Unterentfelder Sportanlagen, Frei- und Hallenbad sowie Fussballplatz inklusive, hinter dem Distelberg beginnt (auf der anderen, nördlichen Seite des Distelbergs, der eher ein ziemlich abgeflachter Hügel ist, befindet sich gleich Aarau). Wenn irgendwo ein Aufschrei der Begeisterung durch Menschenansammlungen ging, so war es nicht etwa, weil einer eine neue Pflanze entdeckt hatte, sondern weil ein Goal geschossen oder ein Penalty verschossen worden war. Der 2005 eingerichtete Pfad im Gebiet Tann beidseits der Schönenwerderstrasse führt in ruhigere Zonen und will die Beobachtung und Sinneswahrnehmungen schulen. Dazu gehört auch das Training des Gehörs.
 
Ein auf 2 Stamm-Rondellen gelegter, langer Baumstamm dient als Waldtelefon. Wenn jemand am einen Ende mit einem Hölzchen an einer Schnittseite an den Stamm klopft, wird das auf der gegenüber liegenden Seite deutlich, wie durch einen Verstärker, vernommen. Dies erklärt sich daraus, dass der Stamm aus einem Bündel von Röhren, wasserleitenden Gefässzellen (Kapillaren), besteht, die eben auch Klänge und Töne übertragen können.
 
Das Baumstammwissen wird an der gleichen Stelle komplettiert: Das Kernholz aus nadelartigen Zellulosefasern ist das tragende Element des Baums, das durch eine Art Leim, das Lignin, zusammengehalten wird. Darum herum ist das Splintholz gewickelt, das später zu Kernholz wird. Es enthält die Leitungen für Wasser und Nährstoffe, die bis in den Kronenbereich führen. Dann folgt, gegen aussen, das Kambium, also der wachsende Teil des Baums, der durch Pflanzenhormone (Auxine) gesteuert wird, die im Frühjahr in den Blattknospen der Zweigspitzen gebildet werden. Der sich daran anschliessende Bast (innere Rinde) versorgt den Baum mit Nährstoffen; er stirbt bald ab und verwandelt sich in Kork und dann in Borke. Diese Borke ist der äussere Mantel das Baums und schützt ihn vor zu starker Sonneneinstrahlung, Kälte, Hitze, Pilz- und Insektenbefall. Sie ist auch der Lebensraum für den künstlerisch tätigen Borkenkäfer wie der Fichtenborkenkäfer (Ips typographus, Buchdrucker), ein Meister seines Fachs, der bei kranken Bäumen ähnlich wie die Organisationen Dignitas oder Exit den Sterbeprozess beschleunigt – Waldprozesse laufen im Übrigen langsam ab. Ein gesunder Baum verharzt seine Wunden sogleich, und der Borkenkäfer, der sicher kein Schädling ist, muss sich bemühen, heil aus dem Harzfluss heraus zu kommen. Borkenkäferfallen sind deshalb ein Beweis für falschen Waldbau und stellen dem zuständigen Förstern ein miserables Zeugnis aus.
 
Waldmenschen
Der Spaziergänger erfährt auf dem Entfelder Pfad etwa, dass sich der Wald nach der letzten Eiszeit ausgebreitet hat, und dass es dort, wo er gedeihen kann, auch für Menschen lebenswert ist, so dass Wald und Mensch also eng verbunden sind – nicht erst, seitdem sich der Mensch etwa im 4. Jahrhundert von unserer Zeitrechnung zur Sesshaftigkeit entschlossen hat. Doch hinderte dies unsere Gattung nicht, den Wald besonders in der Bronze- und Eisenzeit zirka ab 1800 v. u. Z. zunehmend abzuholzen. Mit Waldgesetzen wurde der Waldvernichtung in der Schweiz Einhalt geboten, so dass noch etwa 35 % der Fläche des Kantons Aargau mit Wald bestockt sind, in Oberentfelden sind noch etwa 40 % der 717 Hektaren bewaldet.
 
Vonselbst versteht sich, dass es nicht einfach auf die Fläche, sondern auch auf den Zustand des Walds ankommt. Je vielfältiger und standortgerechter er ist, desto hochwertiger ist seine Qualität. Und was alles zu einem lebendigen Wald, insbesondere an Sträuchern, gehört, lehrt der Erlebnispfad an vielen Beispielen. Er serviert kurze Beschreibungen von Wildapfel, Wildbirne, Weiss-, Schwarz- und Kreuzdorn, Hartriegel, Wald-Geissblatt, Pfaffenhütchen, die gerade ihre karminroten, giftigen Früchte präsentierten, Heckenrose, Faulbaum, Liguster usf. Besonders aufmerksam las ich den erfreulich kritischen Text über die Fichte auf etwa 450 m ü. M.: „Im Mittelland gedeiht die Fichte oder Rottanne natürlicherweise auf etwa 800 bis 2400 m. Weil sie rasch wächst und ihr Holz vielseitig nutzbar ist, wird sie im Flachland seit dem 19. Jahrhundert übermässig gefördert. In nicht standortgerechten Monokulturen fördert sie die Bodenversauerung und ist als Flachwurzler sturmgefährdet.“
 
Die ausufernde Verfichtung der Flachlandwälder durch Industrieförster mit ihrer unbändigen Intensivproduktionsphilosophie war ein gravierender Ausrutscher, der viele Wälder der Trübseligkeit entgegenführte und diese um die Wohlfahrtsfunktionen brachte. Einzelne Förster haben inzwischen ihr Hochschulwissen überwunden und sind nun dabei, die Fichten dort zurückzudrängen, wo sie nicht hingehören. So sind im Oberentfelder Gebiet Tann zahlreiche Fichten mit einem verschlankten Andreaskreuz in Rot angezeichnet, was ihr Todesurteil bedeuten könnte, eine Korrekturmassnahme, welche den Wald aufwertet, auch als Erholungswald. Man darf wieder hoffen. Das oft überrissene Forstwegnetz erhält eine Zusatznutzung, wenn der Wald wieder als schön empfunden und begangen wird.
 
So vermittelt der Entfelder Erlebnispfad neben Waldwissen – man lernt auch, was ein Ster (1 Raummeter) und ein Klafter (3 Ster) Holz sind – mannigfaltige Denkimpulse. Und wenn einmal auf dem meist gut signalisierten Weg an einer Abzweigstelle wie vor dem Waldhaus ein Wegweiser mit der Entfelder Ente, die den Ortswappen von Unter- und Oberentfelden entsprungen sein könnte, fehlt, kommt man sich wie ein Orientierungsläufer vor. Man konnte sich vorher an kleinen Karten über den Verlauf des Rundwegs informieren. Wer beim Waldhaus die Rechtskurve erwischt hat, wird mit dem Anblick eines schönen Waldweihers mit sich auftürmenden Seerosen inmitten eines Mischwalds belohnt – eine Lebens- und Landschaftseinheit aus selbstständigen Elementen, die voneinander abhängig sind und einander unterstützen.
 
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