Textatelier
BLOG vom: 29.08.2009

Unser Verhältnis zur Zeit: Ist es wohl ein Missverhältnis?

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Der Anstoss zu diesem Blog fand ich im Sunday Times Artikel „No time like the present” von Tim Lott, am 23.08.2009 erschienen. Der Autor hat Recht: Wir alle können eigentlich nur die Gegenwart erleben und erfassen, auch dann, wenn wir unsere Vergangenheit vergegenwärtigen oder uns Gedanken über die Zukunft machen. Die Uhr ist bloss ein mechanischer Zeitmesser. Eine Sekunde um die andere rutscht in die Vergangenheit. Der Kalender verschafft Rückblick über vergangene Termine, ob eingehalten, verpasst oder annulliert und hält bevorstehende fest. Die Zeit lässt sich erfassen, doch nicht greifen.
 
Ich versuche mir dies so zu veranschaulichen: Am vorletzten Sonntag wurden meine Frau und ich zur Abschiedsfeier bei einem befreundeten Ehepaar in der Londoner Stadtmitte eingeladen. Erst als wir die Türschwelle überschritten hatten, erlebten wir die Gegenwart dieses Anlasses, als wir mit den eingeladenen Gästen auf der Terrasse ins Gespräch kamen. Auf der Heimfahrt war diese Einladung schon in die Vergangenheit gerutscht, wie wir unsere Eindrücke austauschten. Unser Gastgeber und seine Gemahlin sind inzwischen in ihren Ruhestand nach Südfrankreich übergesiedelt, in ihre neue Gegenwart. Ihr Londoner Haus war geräumt und wird vermietet. Werden sie London vermissen?
 
Vor wenigen Wochen noch war David ein vollbeschäftigter Anwalt. Jetzt ist er pensioniert. Wie werden sich David und seine Frau in ihre neue Gegenwart auf einer Anhöhe oberhalb von Nizza akklimatisieren? fragten wir uns. David schien etwas niedergeschlagen. Den Garten seines grossen Grundstücks zu bestellen, bereitete ihm Sorgen. Er hatte sich gewaltig angestrengt, um seine Französischkenntnisse zu verbessern, „gerade ausreichend, um Mahlzeiten zu bestellen und Einkäufe zu tätigen“, meinte er schulterzuckend. „Immerhin hat es dort eine tolle Metzgerei“, erhellte sich sein Gesicht vorübergehend. Ich weiss, dass man den Franzosen sprachlich gewachsen sein muss, um in ihrem Kreis aufgenommen zu werden. Woher weiss ich das? Aus der Vergangenheit, nachdem ich mein Französisch auf die Höhe gebracht habe und mich in der Mentalität der Franzosen zurechtfand.
 
Aus dieser Skizze hätte eine Kurzgeschichte werden können. Die Zeiten mischen sich, doch sind alle in der Gegenwart des Anlasses verankert.
 
Jede Erzählung schöpft entweder aus der Vergangenheit, und/oder greift der Zukunft voraus und verwandelt sie dabei während des Schreibens oder der mündlichen Wiedergabe zur 2. Gegenwart. Hoch lebe diese 2. Gegenwart, am leichtesten erfassbar, erklingt eine lieb gewonnene Melodie erneut im Ohr! (Das ist viel besser als der furchtbare Lärm von draussen eben jetzt, wie ein Riesenbaum zersägt wird und die Äste in der Fräse zu Spänen zerstückelt werden.) Die Gegenwart hat unbestreitbar ihre guten und schlechten Seiten. So war es auch in vergangenen Zeiten gewesen und wird zukünftig nicht anders sein. Aber nur wer standfesten Boden unter sich hat, kann seine Gegenwart nach dem Grundsatz des freien Willens beeinflussen.
 
Das Verhältnis zur Zeit ist in der westlichen Welt arg zerrüttet. Die Wohltaten der IT sind zweischneidig, weil sich Leute stundenlang mit virtuellen Programmen sättigen. Damit leben sie an ihrer Gegenwart vorbei. Sie stecken auf dem Abstellgeleise ihres Lebens. Stimmt das? Virtuelle Programme oder Filme, Theaterstücke spielen sich in unserer persönlichen Gegenwart ab, von unserer Wahl bestimmt. Wir sind an dieser Gegenwart mitbeteiligt, aber nehmen unsere eigene kaum mehr wahr. Wer kann das analysieren?
 
Hier ist noch ein Gedanke, mit dem ich mich auseinandersetzen sollte: Die Vergangenheit entwachse aus der Gegenwart, denn die Vergangenheit sei, laut Tim Lott, nichts anderes als einstige Gegenwart in der Welt- oder Familiengeschichte, die je nach Interpretation oder Erinnerungsvermögen verwandelt auftauchen. Aber diese Hypothese übersteigt meinen Horizont.
 
Damit kann ich mich besser identifizieren: Unser Zeitgefühl ändert sich mit der Zeit, was besagen will, dass wir in jungen Jahren durch die Zeit stürmen, um unseren Stellenwert (Status) zu begründen und zu festigen – etwa auf der von uns erhofften und angestrebten beruflichen Laufbahn. Solche Ambitionen, gleich welcher Art, treiben uns an der Gegenwart vorbei. Die Gegenwart gleicht einem Wildbach, der vom Felsen in die Tiefe stürzt. Wir erwerben uns Güter und imaginäre Annehmlichkeiten, die wir kaum geniessen können und missachten beständigere Lebensinhalte. Erst in späteren Lebensjahren erkennen und schätzen wir die Gegenwart, geniessen sie und bleiben dabei, so es das Geschick will, nicht länger in der Vergangenheit kleben, noch ängstigen wir uns vor der Zukunft. Wir können Erinnerungen wachrufen und vergegenwärtigen und uns mit der Zukunft anfreunden. Nur im Schlaf oder Tod entrinnen wir der Gegenwart. Der Augenblick gehört uns allen – und mir, wie ich jetzt hier den Schlusspunkt setze.
 
 
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