Textatelier
BLOG vom: 20.02.2008

Merkwürdige Lesung: Der Erzähler Aisling aus Irland

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Gewisse Länder/Regionen wie etwa Wales sind für ihre Sänger bekannt, andere, wie Irland, für Erzähler.
 
Aisling O’Connor wurde in Dublin geboren. Als 12-Jähriger übersiedelte er mit seiner Familie und Geschwistern nach London; sie liessen sich im Stadtteil Hammersmith nieder – der Hochburg der Iren, wo er heute noch lebt und viel erzählt.
 
Sein Vater war ein Altwarenhändler – ein „Rag-and-bone-man“, der mit Pferd und Karren alles, was sich wieder verwerten liess, sammelte. Dem letzten Londoner „Rag-and-bone-man“ bin ich vor rund 20 Jahren an einem Sonntagmorgen in Tooting (südwestlicher Londoner Stadtteil) begegnet. Was sah ich auf seinem Karren? Ein Weihwasserbecken aus Schmiedeisen und Messingschale. Ich hielt mein Auto an – im Nu war der Handel zwischen uns ausgemacht , und ich lud das gewichtige Kirchenmöbel in mein Auto. Heute noch steht es vor dem Hauseingang, und statt Weihwasser steht ein Geranientopf in der Messingschale. Der alte Gaul und der Ire waren beide auf ihre Weise froh, vom Gewicht befreit zu sein. Mit einem „Hüh-Hoh“ brachte er den Gaul wieder in den Trott. „God bless!“ hatte er noch gesagt, denn die Iren sind ein gläubiges Volk.
 
Aber hier muss ich den Rank finden, um den Erzähler Aisling erzählerisch zu würdigen. Er mochte etwa 80 Jahre alt sein. Zwar hatte er viele Zähne verloren, doch nicht seinen dichten Haarschopf. Kelten tragen eine dichte, meist dunkle Haarkrone. Seine war wie vom Raureif weiss übersprenkelt. Er trug einen ausgefransten, speckfleckigen Mantel. Immer trug er eine alte Ledertasche, über die Schulter geworfen. Das hatte seinen guten Grund, denn in der Tasche lag wohlbehütet sein Kapital, ein alter Schmöker. Dieser sicherte ihm sein Auskommen und verhalf ihm abends zu mehreren Pinten „Guinness“ im „Irish Pub“, ein lärmiges Ecklokal an der verkehrsreichen Strassenabgabelung zwischen Kings Street und Beaden Road. Es versteht sich, dass er seine abendlichen Pub-Auftritte auf mehrere Lokale etappenweise verteilte – der Shepherd’s Bush Road entlang, wie der Abend verstrich. Von dort aus war es nicht weit zu seinem Untergeschoss, wo er auf 2 aufeinandergeschichteten Matratzen immer leicht den Schlaf fand.
 
„Na, was verzapfst du uns heute?“ fragte ihn einer der Stammgäste im „King’s Arms“. Auf solche Fragen war Ainsling gewappnet und antwortete, gegen die Theke deutend: „Das kommt darauf an, wie viel du mir abzapfst.“ Mit seinem Humpen in der Hand liess sich Aisling beim Gasfeuer in der Ecke nieder, nahm zuerst einige tüchtige Schlucke des „Stouts“ und wärmte sich auf, ehe er den Ranzen neben sich absetzte und das dicke Buch zu Hand nahm.
 
„Mir ja nicht ins Buch gucken“, brummte er, als er in Gedanken versunken darin zu blättern begann. „Wie du es fertig bringst, ohne Brille und im Halbdunkel zu lesen, das weiss ich nicht?“ sprach ihn ein anderer Zechgenosse an. Aisling war ein gewiegter Zecher und ging auf diese Frage gar nicht ein. Vielmehr wartete er, bis sich ein halbes Dutzend Zuhörer eingefunden hatten. Zum Glück war der Fernseher auf der anderen Seite des Pubs, und dieser konnte ihn hier nicht stören. „Also denn“, stimmte er seine Stimmbänder und spuckte kunstvoll ins Kaminfeuer. Plötzlich schaute er verwundert auf: „Was machst du hier?“ fauchte er mich an, „du gehörst nicht zu uns!“
„Und wenn ich euch eine Runde spendiere?“ parierte ich artig. Das wirkte, und ich wurde im Kreis aufgenommen. Welche Geschichte er in seiner gälisch eingefärbten Sprechweise vom Stapel liess, konnte ich nicht ausmachen. Schliesslich lebte ich erst seit einem halben Jahr in London. Aber seine Mimik unterhielt mich glänzend. Ging es um Legenden aus der reichhaltigen irischen Folklore?
 
Zuerst klebten Aislings Augen am Text, aber nach und nach liess er seine Blicke schweifen, als er in Fahrt geriet. „Der kennt das ganze Buch auswendig“, sagte der dickleibige Herr neben mir beeindruckt. „Das gehört wohl zur mündlichen Überlieferung“ (oral tradition), vermutete ich. Er glotzte mich an, bis ihm das Licht aufging: „Oral contraception!“ (mündliche = orale Empfängnisverhütung) lachte er schallend.
 
Und das war Aislings erzählerisches Talent, eine Gabe, um die ich ihn beneidete, wie er seine Geschichten aus dem Stegreif zum Besten gab. Denn sein Buch bestand aus lauter unbeschriebenen Blättern, die über die Jahre fast pechschwarz vom fortwährenden Umblättern geworden sind – eine bessere Druckerschwärze gibt es nicht.
 
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