Textatelier
BLOG vom: 04.10.2007

Charles Lamb: Gedanken aus vollem Londoner „Bauch“

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Leslie Littlewood, mein Vorgesetzter anfangs der 1960er-Jahre, hatte mir empfohlen, diesen Essayisten (1775–1834) zu lesen. Dieser schlaue Mann aus Yorkshire hatte festgestellt, dass ich die halb hervorgezogene Pultschublade zum heimlichen Bücherlesen benutzte. Da ich meine Arbeit meistens wendig erledigte, konnte ich mir diesen Luxus unbemängelt erlauben. Und ratterte meine Schreibmaschine, schrieb ich oft Essays. Mit seinem Einverständnis durfte ich mich erst noch in viele Kurse aller Art einschreiben. Ob ich allen gefolgt bin, lasse ich hier unbeantwortet. Mir ging es dabei darum, Freizeit zu schinden, um London zu entdecken.
 
Einige Essays von Charles Lamb hatte ich damals mit gewisser Mühe gelesen. Er schrieb in eher langatmigen Episoden, die mein Schulenglisch überforderten. Vor wenigen Tagen fand ich sein Werk „Charles Lamb: Essays“, bei der Folio Society in London 1963 erschienen, und begann es zu lesen.
 
Charles Lamb war ein Stadtmensch durch und durch. Er schrieb an William Wordsworth (1770–1850), einen namhaften englischen Poeten: „Mir ist es gleichgültig, wenn ich in meinem Leben keine Berge sehe. Ich habe alle meine Tage in London verbracht, bis ich so viele und intensive lokale Verbindungen angeknüpft habe wie ein Bergsteiger in der toten Natur.“ Das ist, wohlgemerkt, seine Meinung, nicht die meine.
 
Dieser Essayist verdiente seinen Lebensunterhalt als Angestellter der East India Company und verbesserte sein karges Gehalt als freiberuflicher Journalist. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1825 blieb er ein Lohnsklave. Dennoch hat er einen Schatz von Essays hinterlassen, die auch mich noch heute ansprechen. In diesem Sinne fühle ich mich gewissermassen mit Charles Lamb verwandt.
 
Aber hier überlasse ich Charles Lamb das Wort und biete einige Kostproben, die in mir ein Echo ausgelöst haben, von mir etwas verkürzt verdeutscht:
 
Aus Lambs Essay „Der Londoner“
„Ich war in der Masse geboren. Dies prägte meine Vorliebe für Geselligkeit und meine eingefleischte Abneigung gegenüber Einsamkeit und landschaftlichen Szenen. Diese Abneigung wurde nie unterbrochen noch aufgehoben, ausser während einiger Jahre im jüngeren Teil meines Lebens, als meine Zuneigung einer charmanten jungen Frau galt.“
 
„Meiner Leidenschaft für Menschenmassen kann ich nirgends besser als in London frönen. Es muss ein seltsamer Mensch sein, der seinen Hang zur Melancholie nicht in der Fleet Street (tumultuöse Strasse, wo einst die Londoner Presse hauste) los wird. Ich neige zur Hypochondrie, aber in London verschwindet sie, wie so viele andere Gebresten.“
 
Alle Auswüchse, Irrungen und Wirrungen, die Lamb im „Bauch von London“ vorfand, stachelte seine Neugier an, die er ohne moralisch erhobenen Zeigefinger in seinen Essays verarbeitete.
 
Aus dem Essay „Über die Tragödien von Shakespeare“
„Wir sprechen von Shakespeares bewundernswerter Gabe der Lebensbeobachtung, wenn wir fühlen sollten, dass sie nicht in kleinherziger Inquisition in jene schäbigen Alltagscharaktere, die ihn umringten, wie sie auch uns umringen, ausartet, sondern von seinem Geist aufgegriffen und in die ,Sphäre des Menschseins’ übersetzt wurde, zu Bildern von Tugenden und Wissen verdichtet, die jeder von uns als Teil der Gesamtnatur (hier würde der Franzose sagen ,la condition humaine’) erkennt.“
 
Sein Originalsatz war viel länger, und ich musste den Faden im Wortknäuel verfolgen, um den Inhalt zu erfassen. Heute haben wir leider unsere Lesegeduld weitgehend verloren. Ich glaube, einen solchen Satz zu entziffern, ist amüsanter als ein Kreuzworträtsel zu lösen …
 
Aus dem Essay „Unabhängige Gedanken zu Büchern und übers Lesen“
„Ein geistreicher Bekannter von mir war derart beeindruckt vom ,sally’ (Gefasel?) seiner Lordship (Hochwürden), dass er das Lesen ganz und gar aufgab, sehr zum grossen Vorteil seiner Originalität und selbst auf die Gefahr hin, einen Teil seiner Glaubwürdigkeit zu verlieren. Ich selbst muss gestehen, dass ich einen nicht unbeachtlichen Teil meiner Zeit den Gedanken anderer widme. Ich verträume mein Leben in den Spekulationen von anderen. Ich liebe es, mich in den Gedanken anderer zu verlieren. Wenn ich nicht spaziere, lese ich; ich kann nicht sitzen und denken. Bücher denken für mich.“
 
Ob es einsame Spaziergänge sind, die Gedanken oder Einfälle auslösen oder ob sie einem im gesellschaftlichen Treiben anfallen: ich brauche meine Sitzfläche, um sie zu bannen.
 
Mein Intermezzo zum Unverständlichen
Wir lesen oberflächlich, so sehr, dass wir bald jeden Wortunsinn schlucken. Viele nichtssagende Ausdrücke fliessen aus Amerika in unsere deutsche Sprache ein. Hand aufs Herz: Wer versteht und definiert folgendes Kauderwelsch: progressive pathways, matrix structures, fringe meetings, unlocking clusters, principles of integrated management, data stewardship initiatives, core values, social engineering, demographic deficit“?
 
Jeder Guru und aufgeblasene Berater lässt solchen Sprachkot fallen. Sie sollten ihn wieder auflesen müssen, wie der Hundebesitzer die Hinterlassenschaft seines Vierbeiners.
 
Aus dem Essay zum „Inner Temple" (Innenhof der Anwälte in London)
„Tatsächlich ist dies der eleganteste Ort in der Metropole. Welcher Wechsel für den Mann vom Land bei seinem ersten Besuch in London – der Übergang vom vollgestopften ,Strand’ und ‚Fleet Street’ (beides Teile in der Londoner Stadtmitte) in diese grandiose, geräumige, klassische Squares (so werden die von Gebäude flankierten Grünflachen genannt), welche von drei Seiten den grossen Garten einfassen.“
 
Im „Temple“ wurde Charles Lamb geboren und verbrachte dort seine ersten sieben Jugendjahre. So hat sich also doch ein Stück Natur in seiner Seele eingenistet, mitten in seiner geliebten Metropole. Das Blog wäre heute das ideale Medium der beinahe ausgestorbenen Essayisten.
 
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