Textatelier
BLOG vom: 10.09.2007

Friedrich Nietzsches Zeit in Sils-Maria GR, hoch über allem

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Hoch über allem war er, und so fühlte er sich auch: Friedrich Nietzsche (1844–1900), der grosse Denker. Mit seiner geistigen Höhenlage stimmte die geografische des Oberengadins überein, das er in einem Brief als „viel höher über allen menschlichen Dingen“ bezeichnete. Sils-Maria GR wurde für ihn ab dem Sommer 1881 zum „lieblichsten Winkel der Welt“; dort hatte er in den Sommermonaten jeweils eine ausgesprochen produktive Phase, dort unternahm er seine Spaziergänge, bevor der Wahnsinn die Macht über ihn ergriff. In Sils-Maria, den „heroischen Idyll“, befindet sich noch heute das Nietzsche-Haus, das in der Sommer- und Wintersaison täglich, ausser an Montagen, von 15 bis 18 Uhr besichtigt werden kann und im Übrigen auch Arbeitsaufenthalten von literarisch Interessierten dient.
 
In meiner eigenen Bibliothek ruht seit 50 Jahren das Fischer-Taschenbuch 115 aus der Reihe „Bücher des Wissens“ („Nietzsche“), das ziemlich mitgenommen ist und dessen Deckblatt beinahe abfällt. Ich hatte das Kaufdatum (15.6.57) auf die 1. Innenseite geschrieben und mich dort als (stolzer) Eigentümer dieses im Vorjahr (1956) erschienenen Büchleins ausdrücklich erwähnt. Diese von Karl Löwith eingeleitete Auswahl aus Nietzsches Werk prägte mein Denken mit und bedeutete mir viel, und nach und nach legte ich mir eine kleine Nietzsche-Bibliothek an.
 
Umgewertete Werte
Zum ersten Mal in meinem damals jungen Leben (ich war noch nicht ganz 20) las ich fulminante Texte, mit denen die Auswüchse des Christentums und der verblödende Herdentrieb der Menschen gegeisselt wurden. Was ich instinktiv aufgrund von den mir aufgezwungenen Begegnungen mit der bluttriefenden Welt des Bibelumfelds gespürt hatte, war hier in eine gewaltige Sprache gefasst, die mich mit ihrer Wucht beinahe erschlug. Hier ein Zitat aus „Der Antichrist (1. Buch der Umwertung aller Werte“):
 
“– Hiermit bin ich am Schluss und spreche mein Urteil. Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche liess nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von ihren ‚humanitären’ Segnungen zu reden! Irgendeinen Notstand abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit, sie lebte von Notständen, sie schuf Notstände, um sich zu verewigen ... Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Notstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert! – Die ‚Gleichheit der Seelen vor Gott’, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangsprinzip der ganzen Gesellschaft geworden ist – ist christlicher Dynamit ... ‚Humanitäre’ Segnungen des Christentums. Aus der humanitas einen Selbstwiderspruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffenen Instinkte herauszuzüchten! Das wären mir Segnungen des Christentums! – Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihrem Bleichsuchts-, ihrem ‚Heiligkeits’-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung der Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat – gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst ...“ (Seiten 219/220).
 
Solche Hammerschläge gegen eine Institution, die vom göttlichen Fluidum umgeben und damit unantastbar war, entfalteten eine ungeheure Wirkung auch auf mich, und ich begann, die Religionen kritisch zu beobachten. Nietzsche kam zur Einsicht: „Der Buddhismus verspricht nicht, sondern hält; das Christentum verspricht alles, aber hält nichts.“ Das habe ich ebenfalls bestätigt gefunden, soweit ich es beurteilen kann. Die buddhistische Friedfertigkeit beeindruckt schon.
 
Die Geschichte der Bibel-Religionen ist abstossend. In seinem Namen geschah der grösste Völkermord aller Zeiten als Folge von Kolumbus’ Entdeckung von Amerika. Dies führte zu 70 Millionen Toten, das Resultat eines fanatischen Christen, der ausgezogen war, seinen allein selig machenden Glauben zu verbreiten und Gold an sich zu reissen. Nur ein Indianer, der sich unterwarf, war ein guter Indianer, und für die anderen galt: „Das Pulver gegen die Heiden ist für unseren Herrn wie Weihrauch ...“ Und von der Kirche praktizierte Angstmacherei, Folter, die nun auch das religiöse Amerika wieder aufleben liess, Totschlag und Mord kennzeichnete die christliche Politik – Kirchenausschmückungen mit ihren Szenen von Kreuzigungen, Enthauptungen, Schlangen-Ermordungen usf. entsprechen in ihrer Aussage etwa dem, was heute von Killer-Videos geboten wird. Eine friedliche, naturverbundene Welt kann daraus nicht entstehen, wie mir scheint, auch nicht eine solche ohne Religionskriege, ohne Clashs of Civilizations, wie der heutige US-inszenierte Kampf der Kulturen genannt wird.
 
Im Nietzschehaus
Mit diesem Erfahrungshintergrund betrat ich am Sonntagnachmittag, 26. August 2007, im Rahmen meiner Albula-/Oberengadin-Exkursion das einfache, angenehm proportionierte und etwas in den Hintergrund zur steil ansteigenden Bergwand versetzte, Bescheiden- und Zurückgezogenheit ausstrahlende Nietzsche-Haus in Sils-Maria neben dem Hotel „Edelweiss“. In der Ausstellung wird man mit folgenden Versen an seinen berühmten Bewohner erinnert:
 
Sils-Maria
Hier sass ich, wartend, wartend, doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei –
Und Zarathustra ging an mir vorbei ...
 
Vor dem Haus ist die „Friedrich-Nietsche“-Skulptur von Giuliano Pedretti, in der man das ausdrucksstarke Gesicht mit den kräftigen Augenbrauen und dem Riesenschnauzer des Geehrten zu erkennen glaubt. In einer Broschüre über das Nietzsche-Haus (2004) schrieb Peter André Bloch, in Sils-Maria habe sich Nietzsche aufgehoben gefühlt; hier habe sich seine Innenwelt in der Aussenwelt wiedergefunden. Die Briefe, die der Dichter und Denker hier geschrieben hat, sind voll von Aussagen höchster Beglückung: „Die Wege, Wälder, Seen, Wiesen sind wie für mich gemacht.“
 
Dass das einfache Zimmer in diesem Durisch-Haus (der Lebensmittelhändler Gian Rudolf Durisch war jahrelang Gemeindepräsident von Sils), in dem sich Nietzsche für 1 CHF pro Tag eingemietet hatte, und die Oberengadiner Atmosphäre waren für ihn eine Quelle der Kraft und der Inspirationen. Im gleichen Hause konnte er gleich englische Biskuits, Corned-Beef, Tee, Seife und alles andere, was er für seinen asketischen Lebensstil benötigte, kaufen. In dieser günstigen Umgebung entstanden die Konzepte für viele Werke, die das europäische Geistesleben beeinflussten: „Die fröhliche Wissenschaft“, „Also sprach Zarathustra", „Jenseits von Gut und Böse“, „Genealogie der Moral“, „Der Fall Wagner", „Götzendämmerung“, „Dionysos-Dithyramben“ und „Der Antichrist“.
 
Die Tür zum Arbeitszimmer in der 1. Etage im Nietzsche-Haus steht offen; ein Blick in den Raum ist gestattet: Bett, Tisch und Stuhl, Kanapee, Waschgestell, Spiegel, Lampe und Kerze; „Höhle“ nannte der Bewohner seinen Raum, und er war der Bär. Das restliche Haus ist mit Fotos, Handschriften, erläuternden Texten, Büchern, Nietzsche-Masken usw. vollgestopft. Man spürt, dass die Fülle, die zu sagen und darzustellen wäre, das Fassungsvermögen eines Hauses überschreitet. Doch die Ausstellung ist dennoch höchst informativ.
 
Vor allem wird auf die dubiose Rolle von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche hingewiesen, die eine erste Gesamtausgabe von Nietzsches Werk vorbereitete, philologische Prinzipien über den Haufen warf und herausstrich, was ihr nicht in den Kram passte, ihren Bruder aber immerhin pflegte. Die literarischen Schäden werden jetzt wieder rückgängig gemacht. Und Elisabeth Förster war es auch, die ihrem Bruder die Rolle eines Vordenkers des Dritten Reichs zuwies ... auch wenn dies mit dem besten Willen nicht mit Nietzsches Forderung nach der Übernahme von Selbstverantwortung durch das Individuum und sein Einsatz gegen die Absolutsetzung von Ideen zu vereinbaren war.
 
Die Ausstellung fasst den literarischen Kreis weit und verkündet, wie die Engadiner Landschaft und das helle Licht der Höhensonne, das durch die klare Bergluft kaum verändert wird, und das reine Blau des Himmels Maler wie Giovanni Segantini, Ferdinand Hodler und Marc Chagall und auch Schriftsteller beflügelt hat: Theodor W. Adorno, Jürg Ammann, Alfred Andersch, Walter Benjamin, Gottfried Benn, Paul Celan, Jean Cocteau, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Hermann Hesse, Annette Kolb, Karl Kraus, Thomas Mann, Conrad Ferdinand Meyer, Robert Musil, Marcel Proust, Rainer Maria Rilke, Kurt Tucholsky, Richard Wagner und viele andere.
 
Der Einsame
Nietzsche litt seiner Lebtag an migräneartigen Kopfschmerzen und Problemen mit den Augen: „Mein Zustand ist eine Thierquälerei und Vorhölle, ich kann’s nicht leugnen.“ Bei Spaziergängen unter Lärchen und Tannen soll sich seine Sehkraft jeweils etwas verbessert haben. Er suchte immer nach einem Klima, das ihm Erleichterung verschaffte, pendelte zwischen Naumburg D, dem Engadin und Oberitalien hin und her – das Oberengadin war der Gegenpol zu den wie Krebsgeschwüre metastasierenden Metropolen. Nietzsche bevorzugte möglicherweise auch aus diesem Grund die Einsamkeit (er wurde „der Einsiedler von Sils-Maria“ genannt).
 
Auf seinen weiten Spaziergängen, deren Schauplätze Paul Raabe im Arche-Büchlein „Spaziergänge durch Nietzsches Sils-Maria“ festgehalten hat, konnte er sich ungestört seinen Gedanken hingeben. Das war die beste Voraussetzung für sein Schaffen, das ihm aber zunächst kaum Erfolg brachte. Erst später, als er bereits geistig erkrankt war, wurden seine Werke in den Bestseller-Status emporgehoben, insbesondere „Also sprach Zarathustra – Ein Buch für alle und keinen“. Schon Zarathustra (Zoroastres) war vom Gebirge zu den Menschen herabgestiegen, die seine Lehre nicht hören wollten. Bei Nietzsche dauerte es einfach etwas lange.
 
Im Gegensatz zum Zarathustrismus betrachtete Nietzsche den Kampf zwischen Gut und Böse, wie ihn auch die modernen US-Kriegstreiber lehren, differenziert philosophisch: „Man gehört als Guter zu den ‚Guten’, einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle einzelnen durch den Sinn der Vergeltung miteinander verflochten sind. Man gehört als Schlechter zu den ‚Schlechten’, zu einem Haufen unterworfener, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeitlang soviel wie vornehm und niedrig (...) In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse. Tut trotzdem einer der Guten etwas, das der Guten unwürdig ist, so verfällt man auf Ausflüchte; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen (...) Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschenden Stämme aufgewachsen“ (aus: „Menschliches, Allzumenschliches“: „Zur Geschichte der moralischen Empfindungen“).
 
Nietzsches heroischer und anfänglich zum Misserfolg verurteilter Einsatz galt der Schaffung eines neuen Menschen, der eigenverantwortlich handelt, aus der nivellierenden Vermassung austritt und sich aus den Fesseln des Fortschrittsglaubens befreit. Er wollte die kulturellen Werte, insbesondere das Ideal klassischer Bildung, erhalten, ja verbessern. Der Spiegel für den Kulturzerfall (auf höherer Ebene, wie man aus heutiger Sicht einzufügen geneigt ist) war für ihn die Sprache. Ihr Niedergang war schon damals offensichtlich. Nietzsche wusste, dass eine völlig andere Welt mit sozialen Umwälzungen und gewaltigen Katastrophen kommen würde. Die europäische Kultur verglich er mit einem Strom, „der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen“.
 
Ist das vielleicht die Ursache dafür, dass grosse Denker von Nietzsche-Format heute kaum noch auszumachen sind?
 
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
(Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.)
 
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