Textatelier
BLOG vom: 02.04.2007

Dazu setzen? Berührungsängste der Finnen und Schwaben

Autor: Heinz Scholz, Schopfheim D
 
Die Finnen selbst behaupten, sie hätten Berührungsängste, die schon pathologisch sind. Nun, das wusste ich bisher nicht. Dann las ich am 23. März 2007 einen Bericht von Hannes Gamillscheg, seines Zeichens Korrespondent der „Badischen Zeitung“, über dieses Phänomen: Wer beispielsweise durch einen Park in Helsinki schlendert, sieht viele Bänke, aber nur Einzelpersonen, die sich dort ausruhen. In Italien würden auf einer Dreiersitzbank 5 Leute Platz nehmen, aber in Finnland will nur einer darauf sitzen. Kein Finne käme auf die Idee, seine Parkbank mit einem Wildfremden zu teilen. Man müsste sich dann eventuell in ein Gespräch vertiefen. Und das liegt den Finnen nicht, die als grosse Schweiger in die Geschichte der Menschheit eingingen.
 
Wer fragt: „Ist dieser Platz noch frei?“ wird sofort als Ausländer erkannt. Eine solche Frage würde dem Finnen nie über die Lippen kommen.
 
Laut einer dpa-Meldung haben sich 16 Schottinnen in eine klassische britische Telefonzelle gezwängt, um damit einen neuen Weltrekord aufzustellen. „Es war unbequem, aber ich würde es wieder tun", sagte eine Teilnehmerin. Der bis dahin letzte Quetschrekord stammt vom August 2003, als sich in Edinburgh 14 Menschen in eine der berühmten roten Zellen zwängten.
 
Ein Finne oder Schwabe käme wohl nie auf die Idee, einen solchen Rekord aufzustellen. Für Leute mit Berührungsängsten wäre das eine Qual.
 
Der liberale Stadtrat Sture Godd aus Helsinki hat nun vorgeschlagen, die normalen Dreiersitzbänke durch kleinere zu ersetzen. Auf einer solchen „Singlebank“ könnte sich auch ein Liebespärchen kuscheln, aber auch ein Einzelner mit einem breiten Hintern. Versuchshalber werden jetzt auf der Insel Kulosaari solche Bänke aufgestellt. Werden diese von der Bevölkerung angenommen, kommen solche Sitzgelegenheiten auch in andern Stadtteilen zur Anwendung.
 
„Dass diese Scheu der Nähe verschwindet, wenn die Kleider fallen, und dieselben Leute, die im Park die Einsamkeit suchen, nichts dabei finden, mit Wildfremden eine Saunabank zu teilen, zählt zu den Rätseln der finnischen Eigenart. Allerdings: Geplaudert wird auch in der Sauna nicht“, so Hannes Gamillscheg.
 
Auch Deutsche haben Berührungsängste
In Deutschland gibt es Landstriche, dessen Bewohner unglaubliche Berührungsängste an den Tag legen. Nennen möchte ich besonders die Schwaben. Thaddäus Troll (1914–1980, Suizid), der eigentlich Dr. Hans Bayer hiess, charakterisierte in seinem vordergründigen und amüsanten Buch „Deutschland deine Schwaben“ die Bewohner sehr treffend. Über „Wirtschäftle“ schreibt er dies (Auszug):
 
Wirtschaften, in denen man noch Gast ist, kein zahlender Kunde, in denen man vom Wirt oder von der Wirtin mit Handschlag begrüsst wird, was einen Pakt bedeutet (Wir tun alles, um dich zufrieden zu stellen), gibt es noch genug in allen Preisklassen in Schwaben. Da sind die kleinen Weinstüble, in denen nur 4, 5 Tische Platz haben. Der Schwabe ist zunächst oizecht, ungesellig, er möchte seinen Tisch für sich. „Was machet mer bloss, Vadder, do kommet 5 Schduagerder ond mir hent bloss 4 Disch!“ („Was machen wir bloss Vater, da kommen 5 Stuttgarter und wir haben bloss 4 Tische!“) lautet der Verzweiflungsruf einer ländlichen Wirtstochter …“
 
Ähnliches beobachtete ich auch in badischen Wirtschaften. Da kommen Leute an Sonntagen zum Mittagessen in eine Wirtschaft und suchen wegen der Überfüllung verzweifelt einen freien Tisch. Kaum einer will sich an einen Tisch setzen, wo schon einige oder einer sich breit gemacht hat. Sie kommen lieber später noch einmal vorbei, wenn sich der erste Ansturm gelegt hat.
 
Wenn ich mit meiner Frau zum Essen in ein Restaurant gehe, suche ich auch einen freien Tisch oder bestelle in weiser Voraussicht telefonisch einen Platz. Man möchte schliesslich nicht mit missmutigen Leuten konfrontiert werden und sich auch in Ruhe unterhalten.
 
Einmal bekamen wir einen grossen freien Tisch. Aber dann füllte sich das Lokal bedenklich. Die Kellnerin fragte sehr höflich, ob nicht einige Personen an unserem Tisch Platz nehmen könnten. Wir erfüllten ihren Wunsch. Dann entwickelte sich ein ganz amüsantes Gespräch, so dass die Zeit nur so verflog.
 
Bei Wanderungen ist es leichter, unter Gleichgesinnten Kontakt zu knüpfen. So kommt es schon mal öfters vor, dass wir uns dazusetzen, wenn sonst nichts frei ist.
 
Kürzlich war ich mit Toni im „Sternen“ in Kürnberg. Kein Mensch war im Gastraum zu sehen. Wir setzten uns an den Stammtisch und bestellten eine Vesper. Dann kam ein strammer Fahrradfahrer, den wir schon vor der Wirtschaft an seinem Fahrrad hantieren sahen, herein und setzte sich an unseren Tisch. Es entwickelte sich ein interessantes Gespräch. Wir erfuhren viel über seine frühere Tätigkeit als Lokführer und wie es zu seiner Frühpensionierung gekommen war. Solche Gespräche können ein Gewinn sein. Man erfährt Dinge, die in keiner Zeitung stehen. Manchmal erzählen lustige Zeitgenossen den einen oder anderen Witz. Dann haben wir auch etwas zum Lachen.
 
Vor Jahren wurden wir einmal mit der Berührungsangst eines Wanderers konfrontiert. Immer, wenn wir bei einer Rast uns auf eine Bank setzten, verschmähte er den freien Platz und suchte sich ein Plätzchen in der freien Natur. Ihm war das Sitzen auf Tuchfühlung ein Gräuel.
 
Auch bei Bahnreisen haben viele Leute mit ihren Berührungsängsten zu kämpfen. So sah ich in der Vergangenheit oft Reisende mit ihrem Gepäck so lange durch die Waggons flitzen, bis sie einen passenden Sitz erblickten und sich dann erschöpft und freudig niederliessen.
 
Haben Engländer und Schweizer Berührungsängste?
Ich wollte einmal wissen, wie sich Engländer und Schweizer bei den geschilderten Situationen verhalten.
 
Emil Baschnonga, Aphoristiker und Blogger aus London, schrieb mir die folgenden Zeilen:
 
„Der Engländer ist eher zurückhaltend, schüttelt die Hände erst nach Vorstellung. Auch kleben sie nicht gerne aneinander in Restaurants, ausser im Pub. Kennt man einander, kommt es nach amerikanischer Manier zum Austausch von Backenküssen – mindestens 3, handelt es sich um eine Frau. Die Männer klopfen einander dann auf den Rücken.“
 
Walter Hess äusserte sich so zu diesem Thema:
 
„Ein Berührungsangst-Nationalcharakter lässt sich wohl kaum herausschälen – zu unterschiedlich sind die einzelnen Menschen. Ich gehe immer auf die Menschen zu, spreche mit ihnen, falls sie nicht anderweitig beschäftigt sind. Gerade bei Wanderungen versuche ich, mit möglichst vielen Leuten ins Gespräch zu kommen. Das gehört für mich zur Ergründung der lokalen Kultur, und immer wieder erhalte ich dabei wertvolle Hinweise. Es gibt aber auch Leute, die sich abkapseln. In Gasthäusern suchen viele einen eigenen Tisch, weil man ja nicht weiss, ob man an einem besetzten Tisch willkommen ist oder weil man selber möglichst ungestört tafeln und sich den lukullischen Genüssen hingeben  möchte. Wahrscheinlich sind die Schweizer in Bezug auf Kontaktaufnahmen schon eher zurückhaltend. Bei mir ist das auch so. Mark Twain setzte sich in Gasthäusern möglichst mitten unter die Leute, um gute Beobachtungen machen zu können.“
 
Soweit der Bericht aus der Schweiz. Bei Wanderungen in unbekannten Gegenden frage ich immer wieder Leute aus der Region nach Besonderheiten und Sehenswürdigkeiten. Die meisten Leute (besonders Pensionäre) scheinen froh zu sein, wenn sie einmal mit einem Fremden reden können. Es wird palavert über die geringen Renten, das schlechte Wetter oder über die unersättlichen Manager oder unfähigen Politiker. Manche reden sich in Rage und hören dann gar nicht mehr auf. Man muss sich dann förmlich losreissen und flüchten.
 
Internet
Mit der Suchmaschine Google findet man eine ganze Reihe von Beiträgen unter dem Stichwort „Berührungsängste“. Es wird hier über ganz andere Berührungsängste gesprochen als in diesem Blog dargestellt (Berührungsängste von Schüchternen, Berührungsängste unter Freunden und Partnern).
 
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