Textatelier
BLOG vom: 18.04.2006

Bedenklicher Todesfall in einer Londoner Mietskaserne

Autor: Emil Baschnonga
 
In London wurde die Leiche einer 40-jährigen Frau in ihrem armseligen Wohnschlafzimmer („bedsit“) in einer Londoner Mietskaserne entdeckt.
 
Joyce Vincent war um die Weihnachtszeit vor über 2 Jahren gestorben, doch wurde sie erst vor wenigen Tagen zufällig gefunden. Ihr Fernsehapparat war angedreht, auch die Heizung strahlte Wärme aus – wohl die einzige, die diese bemitleidenswerte Frau vor ihrem Tod erfahren konnte. Neben der Toten lagen Geschenke verpackt auf dem Sofa. Weder ihr Bruder noch ihre Schwestern, weder Nachbarn, noch der Abwart noch sonst jemand wussten um die tote Frau. Erst nachdem festgestellt worden war, dass sie viel Miete schuldete, brachen schliesslich Beamte in ihr Zimmer ein. Eine Menge Post hatte sich hinter der Türe angehäuft. War darunter wenigstens eine Weihnachtskarte?
 
Eine Wohlfahrtsorganisation, die sich misshandelter Frauen annahm, hatte Joyce in den Wohnblock eingewiesen. Es kommt immer wieder vor, dass Leute von der Welt vergessen sterben, besonders allein stehende Pensionierte. Sie werden in der Regel einige Monate später gefunden. Wie aber konnte dies einer jungen Frau widerfahren?
 
Mehr konnten die Zeitungen nicht berichten, ausser dass jemand den Gestank vom Zimmer nebenan bemerkt hatte. Hätte ich selbst die Abwesenheit dieser Frau bemerkt? Es war ein stetes Kommen und Gehen in diesem Wohnblock an der Wood Green High Street. Die Frau hatte wohl ihre Einkäufe im nahen „Shopping City“ getätigt. Niemand hat sie dann vermisst. In der kurzlebigen Zeit von Aktualitäten ist dieses tragische Vorkommnis bereits abgetan und vergessen.
 
Ich selbst versuchte, meine tristen Gedanken zu verscheuchen, doch sie wollen nicht weichen. Ein Grossstadtschicksal? Zerissene Familienbande? Eine Frau, die in ihrem Leben nicht zurecht kam? Vielen Menschen fehlt heute sogar die Zeit für sich selbst. Wie können sie sich, in ihrer eigenen Welt verstrickt und gestresst, Zeit für andere Menschen nehmen? Diese Frau hatte sich Zeit genommen, um Weihnachtsgeschenke auszuwählen, zu kaufen und zu verpacken. Gewiss hätte sie ein besseres Ende verdient.
 
Meine Mutter war sehr beliebt und hatte gute Nachbarn im Haus in Basel, wo sie lebte. Sie nahmen sich ihrer an, besorgten ihre Einkäufe, als sie nicht mehr ausgehen konnte. Sie verschwieg, dass sie den Stuhl nicht mehr halten konnte und zunehmend Mühe mit dem Waschen hatte. Mindestens einmal in der Woche telefonierte ich ihr. Sie war immer zuversichtlich. Ich nahm an, dass sie weiterhin ihre Blumenaquarelle malte, die sie gern verschenkte, schön eingerahmt. Diese Blumen, die sie früher oft zusammen mit meinem Vater auf der Flur und am Waldrand gepflückt hatte, haben ihr ausserdem einen Nebenverdienst beschert, wovon sie immer wieder etwas für meine Kinder auf ihre Sparhefte abzweigte. Auch Nachbarn brachten ihr Blumen aus dem Garten, die sie sofort malte, ehe sie ihre Blumenköpfe drehen konnten.
 
An einem Samstagabend telefonierte ich ihr, wie üblich. Sie antwortete nicht, und ich wurde zunehmend besorgt. Schliesslich telefonierte ich ihren Nachbarn auf dem gleichen Stockwerk. Mit dem Ersatzschlüssel öffneten sie die Wohnung und fanden meine Mutter halb verdurstet und bewusstlos auf dem Bett. Sie wurde sofort ins Spital eingewiesen, wo sie sich einigermassen erholte. Leider konnte sie nicht mehr in ihre so sorgfältig gepflegte Wohnung zurückkehren und wurde von einem Pflegheim aufgenommen.
 
Wie es dem Tod gefällt, uns aus dem Leben zu holen, bleibt mir ein Rätsel. Wie ein Spuk erschien Joyce Vincent in der Zeitung. Werden ihre Familienangehörigen ihr das letzte Geleit geben? Und wenn ja, wie werden sie sich dabei fühlen?
 
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