Textatelier
BLOG vom: 14.12.2005

Was hat meine Grippe mit der Vogelgrippe zu tun?

Autor: Heiner Keller
 
Ich habe die Grippe. Kurz, bündig und einfach. Eine Grippe ist für die Alpennordseite der Schweiz weder neu noch ungewöhnlich. Im Winter, wenn die Tage kurz sind, der Himmel graut, das alte Jahr noch nicht ganz vorbei ist und die Hetze des neuen Jahres noch nicht begonnen hat, lässt man vielleicht nach. Die Grippe fischt ihre Opfer aus der Masse der Menschen. Die Auserwählten spüren sie kommen. Ein dummer Kopf, ein Ziehen im Hals, das Schwitzen und die Unlust. Wenn man sich sofort gut versorgt mit Glühwein und Lindenblütentee ins Bett begibt, sind die Gebresten am Morgen in der Regel wieder zum Aushalten. So war es, letzte Woche, auch bei mir. Anberaumte Sitzungen liessen sich ohne Störung der andern Teilnehmer gut überstehen. Abends sofort wieder ins Bett und am Morgen war die Grippe fast verschwunden.
 
Den Samstag ruhig angehend, packte mich auf einmal eine grosse Lust nach einer gebratenen Ente. Der Duft, die knusprige Haut und das sanft triefende Fett, das beim Abwaschen immer so viel Abwaschmittel verschlang, weckten in meinem Körper eine echte Vorfreude. War das nicht früher schon so? Wenn die Leute geschwächt nach einer Grippe wieder mit ihrer körperlichen Arbeit begannen, bot ein Huhn doch die geeignete Nahrung. Die Fettaugen des Suppenhuhns, viel Flüssigkeit, Gemüse und etwas Fleisch halfen den Rekonvaleszenten auf die Beine. Also, sagte ich mir, nichts wie los. In der vorweihnachtlichen Zeit war es bisher noch nie ein Problem, in einem Laden eine kleine, pfannenfertige Mastente aus Ungarn oder Polen zu finden. Aber oha Lätz! Die „Vogelgrippe“ hat nicht nur die Hühner rigoros in die Ställe verbannt, sondern offenbar auch die Enten aus den Ladengestellen verschwinden lassen. Nach 2 Stunden erfolgloser Suche habe ich resigniert: Wäre ich doch gleich nach Frankreich auf einen Markt gefahren, ich bin sicher, ich hätte eine Ente gefunden. Ich hätte der Stimme des Körpers folgen können und ihm die Nahrung, die er verlangte, geben können. So gewann halt wegen einer fehlenden Ente folgerichtig die Grippe wieder die Oberhand und ich verbrachte den Sonntag im Bett.
 
Mit Galgenhumor kann man behaupten, eine Grippe sei, wie jede Krankheit auch, immer auch eine neue Erfahrung. Persönlich glaube ich das nicht: Chancen, die man in gesunden Tagen nicht sieht und nutzt, können auch in kranken Tagen nicht zum Tragen kommen. Wenn man Krankheiten braucht, um dem Alltagstrott zu entfliehen, dann sollte man ohnehin am Alltag etwas ändern. Die Regelmässigkeit der winterlichen Grippen haben sich Staat und Wirtschaft zu Nutze gemacht. Die Grippe kann man pflegen. Mit der Grippe kann man Angst machen.
 
Die „Vogelgrippe“ spült nicht nur der Life Science Wirtschaft Milliarden in die Kassen. Ängste machen auch die Bevölkerung willfährig und blöd: Endlich hat man den Trick gefunden, wie man alle Geflügel und Geflügelhalter registrieren kann. Alle machen mit und sperren die blöden Freiland-Vögel ein. Zoodirektoren werden zu Tierfängern und Dompteuren. Freiland-Labels werden supponiert, ausgesetzt. Man untersucht und lässt untersuchen. Man entdeckt und vermarktet den uralten Vogelzug neu. Man benennt Virenstämme mit neuen Nummern und plärrt die neuesten Erkenntnisse rund um die Uhr durch den schweizerischen Äther. Dass man gleichzeitig auch die Ladensortimente noch straffen und verbilligen kann, ist angesichts des ausgebrochenen Wettbewerbs um die billigsten Lebensmittel nicht unerwünscht.
 
Mir ist unbekannt, welchem Typ meine persönliche Grippe, auf die ich ein Anrecht habe, am ehesten entspricht. Irgendwie muss sie auch etwas mit Vögeln zu tun haben, sonst hätte ich nicht Lust auf Ente gehabt. So habe ich halt jetzt meine Krankheit, bleibe zu Hause und freue mich, dass in den nächsten Tagen die Schweizer Vögel wieder ins Freie dürfen – sofern es überhaupt noch welche gibt, die das in dieser Jahreszeit wollen. Auch für die Halter ist der Wechsel ja erst einmal wieder nur mit Umtrieben verbunden. Und ich? Soll ich zum Arzt gehen, mich als Grippeopfer registrieren lassen und nach 7 Tagen wieder gesund sein oder soll ich eine Woche zu Hause krank sein? Wie kann ich für die nächste Grippe vorbeugen? Soll ich mir einen Notvorrat an Grippe-Haus-Mitteln zulegen? Was aber passiert mit der gefrorenen Ente, wenn die Grippe nicht kommt? Oder wenn eine Grippe kommt, die dem Körper mehr Lust auf Fisch bereitet? Schliesslich weiss man ja: Wer die letzte Grippe vorbereitet, wird von einer neuen Grippe überrascht.
 
Der persönliche Notvorrat bringt es offensichtlich nicht. Vielmehr tut ein verlässlich-vielfältiges Angebot an lokalen und regionalen Produkten Not. Haben wir ein solches Angebot? Habe ich einfach am falschen Ort gesucht? Vielleicht. Vielleicht ist es auch meine Skepsis gegenüber den angepriesenen Labelprodukten und den Empfehlungen der Ernährungsberaterinnen. Auf jeden Fall fahre ich bei nächster Gelegenheit wieder einmal nach Mülhausen auf den Samstagsmarkt. Ich hoffe, dass es noch lange so ganz normale Kleinbauern gibt, die ihre Produkte, Nahrungsmittel und Spezialitäten einfach so den Konsumenten anbieten. Hätte ich das früher gemacht, wäre die Grippe vielleicht nicht zu mir gekommen – aber ich hatte keine Zeit.
 
Langsam gehen mir die Lindenblüten aus. Ich werde im nächsten Sommer eine grössere Menge ablesen müssen.
 
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