Textatelier
BLOG vom: 25.09.2005

Gedanken über Wagnisse, Reflexe und Reflexionen

Autor: Emil Baschnonga

Ich erwachte jäh und fing das Glas auf, ehe es auf dem Boden zerschellte. Ich hatte unruhig geschlafen und das Wasserglas auf dem niedrigen Nachttischchen nebenan umgestossen. Unter vielen Mängeln fehlt es mir wenigstens nicht an Reflexen … Sie kommen mir im Alltag immer wieder sehr zustatten, etwa wenn ich die Strasse überquere und ein Auto auf mich zurast. „Touch wood“ (Schweiz: „Holz aalange“ – Holz berühren) sage ich mit dem Engländer, um das Schicksal hier nicht zu provozieren.

So sind gute Reflexe oft lebensrettend. Im Sommerferienlager in dem Seitentälchen Valle di Lareccio, einem Seitental des Maggiatals, wenn ich mich richtig erinnere, beschlossen ein Freund und ich, einen kleinen, fast tellerrunden Bergsee zu Fuss zu umrunden und dabei den Steilhang auf der anderen Seite zu bezwingen. Er war stämmiger und bedächtiger und ich wendiger und wagemutiger. Mir gelang der Durchschlupf zwischen 2 engen Felsen. Mein ermunternder Zuruf „Du wirst es schon schaffen!“ blieb wirkungslos, und er ging den Weg, auf dem er gekommen war, zurück. Mein Richtspruch war: „Ich wags!“ Geheuer war es mir nicht, als ich mich auf allen Vieren, so nahe an der Steilwand oberhalb des tiefblauen Sees vorantastete. In einer halben Stunde war Abendessen. Also weiter, damit ich es nicht verpasse. Ich trug nur Turnschuhe, denn zuvor hatten wir Fussball gespielt.

Es kam, wie die teilnahmsvollen Leser oder die Leserinnen richtig vermuten: Ich rutschte aus. Im allerletzten Augenblick erhaschte ich mit einer Hand den dürren Stamm einer kümmerlichen Tanne oder Föhre. Rasch griff ich mit der anderen Hand am Ast ganz nahe an der Wurzel, die sich tief in der Ritze verankert hatte.

Mit dem Fuss sicherte ich prekären Halt in der gleichen lang gezogenen Felsscharte und hisste mich mit Herzklopfen hoch. Ich erreichte das Abendessen zur rechten Zeit und war sogar hungrig und sehr durstig. Erst später kam es immer wieder zu schweissauslösenden Alpträumen.

Tolldreisten Wagemut drossle ich seither. Herausgefordert, sage ich nicht mehr leichtfertig: „Ich wags“, sondern ich werweisse: „Soll ich oder soll ich nicht?“ Ich habe das Alter des Abwägens erreicht – der Reflexionen. Aber es kommt immer noch vor, dass ich sie in den Wind schlage.

So etwa, als ich den Wohnungsschlüssel verloren hatte. Ein Fensterflügel des Zimmers in der Dachschräge war ein Spalt breit offen. Daneben war das obere Fenster im Treppenhaus, etwa auf der gleichen Höhe. Nichts ahnend sassen meine Frau und Kinder im Garten, meiner Sicht entzogen. Wagemutig verlagerte ich mein Gewicht aufs rechte Bein auf den Ziegeln oberhalb der Dachtraufe. Mit einem Zwick und Hupf erhaschte ich den Fensterrahmen nebenan und gelangte Kopf voran ins Zimmer. „Da hast wieder einmal eine hirnverbrannte und verantwortungslose Dummheit angestellt“, schalt ich mich hinterher, als ich mit dem Ersatzschlüssel in der Hand wieder im Garten erschien. Inzwischen hatte einer meiner Söhne den Schlüsselbund gefunden …

„Habe Mut dich deines eigenen Verstands zu bedienen“, hiess der Wahlspruch aus der Zeit der Aufklärung. Auch das kann lebensgefährlich sein: Viele als „Ketzer“ gebrandmarkte Denker, Gelehrte und Freiheitskämpfer endeten im Kerker, auf dem Scheiterhaufen oder wurden aufs Rad geflochten. Heute gibt es andere Mittel, um sich ihrer zu entledigen, sei es durch Totschweigen oder Totschlagen.

Sehr oft ist es gewiss zweckmässig, sich seines Verstandes zu bedienen, das Ergebnis jedoch nicht unbedingt als unliebsame Meinungsäusserung aufzutischen, Meinungsfreiheit hin oder her. Das entspricht der Vernunft, besonders Vorgesetzten und Beamten gegenüber. Gesammelte Erfahrungen bilden den Steg zu Reflexionen und beeinflussen, je nachdem wie unser Verstand arbeitet und wieweit wir ihn mässigen, die Konvenienz, die Harmonie.

Aber wenn es um die Mutfrage geht, seien jene Mutigen gepriesen, die es wagen, Missstände unverblümt anzuprangern und sich als Fürsprecher der Vernunft einzusetzen: also das Glas aufzufangen, ehe es zerschellt – Reflexe und Reflexionen liegen nahe beieinander.

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